Inzwischen hat es sich bei vielen Menschen schon herumgesprochen, dass das vielzitierte Gedicht von den fallenden Börsenkursen wohl doch nicht von Tucholsky ist.
Anders scheint es dagegen in einem Landstrich der Fall zu sein, dessen Bewohner im allgemeinen als besonders fleißig und erfindungsreich gelten. Der sich dafür rühmt, alles zu können außer Hochdeutsch. Auffallend auch, dass sich die Honoratioren des Ländchen offenbar abgesprochen hatten, zum Jahresbeginn zu verschiedenen Gelegenheiten geschlossen das Gedicht von der »Höheren Finanzmathematik« zu zitieren.
So tat es beispielsweise der Berger Bürgermeister Helmut Grieb in der ersten Gemeinderatssitzung des Jahres, wie die Schwäbische Zeitung berichtete:
Mit einem Gedicht von Kurt Tucholsky aus dem Jahre 1930, der großen Wirtschaftskrise der 30er-Jahre, begann Bürgermeister Grieb seinen Vortrag. Bemerkenswert war dabei, dass schon zu dieser Zeit die Worte »Leerverkauf« und »Derivate« in der Sprache der Banker gebraucht wurden.
Wirklich sehr bemerkenswert. Da könnte man als Journalist doch mal auf die Idee kommen, bei Google die Begriffe »Tucholsky Derivate Leerverkäufe« einzugeben und einfach auf irgendeine der Fundstellen zu klicken.
Das machte offenbar auch nicht der Journalist, der über einen Neujahrsempfang in der Bodenseegemeinde Immenstaad zu berichten hatte:
Auf ine [sic] Reise raus aus dem Jammertal 2008, hinein ins Spuerwahljahr [sic] 2009 nahm Bürgermeister Beisswenger die Empfangsgäste. Seine Hoffnung, dass die Menschen aus der Krise des globalisierten Kapitalismus Lehren ziehen, bleibt allerdings schwach. Keinen geringeren als Kurt Tucholsky zitierte er als Kronzeugen. In einem Gedicht »Finanzkrise« aus dem Jahr 1930 beschreibt er just das Szenario der vergangenen Monate.
Na so ein Zufall.
Besser unterrichtet als die Mitarbeiter der Schwäbischen Zeitung sind offenbar die Kollegen von der Südwestpresse. Auch auf dem Neujahrsempfang der Kreishandwerkerschaft Reutlingen durfte Tucholsky nicht fehlen. Allerdings korrigierte Autor Jürgen Herdin den Kreishandwerksmeister Harald Herrmann und machte klar:
Mit der Finanzwelt ging Herrmann zitateweise ins Gericht, indem er vor dem Ausklang mit Mutscheln und Wein ein im Oktober 2008 verfasstes Gedicht des österreichischen FPÖ-Anhängers Richard Kerschhofer verlas, das Herrmann jedoch Kurt Tucholsky unterschob: »Auch die Spekulantenbrut zittert jetzt um Hab und Gut«, heißt es da.
Wobei die »Mutscheln« beweisen, dass die Schwaben wirklich kein Hochdeutsch können.
also das mit den Mutscheln versteh ich jetzt nicht, vielleicht, weil ich Schwabe bin.
Eben. Was um alles in der Welt sind Mutscheln?
Mutscheln? Aber hoppla, das weiß doch (fast) jeder: Ein fantastisches Mürbteiggebäck, dass Anfang Januar verzehrt wird.