Sudelblog-Spezial: „Vom Sinn und Unsinn der Börse“

Aus gegebenen Anlässen sei hier mal wieder auf Auszüge eines Textes verwiesen, der vor einiger Zeit in einer Tucholsky sehr nahestehenden deutschen Zeitschrift gestanden hat.

Vom Sinn und Unsinn der Börse

[…] Die Psyche des Börseaners ähnelt nicht der des Schachspielers, sondern der des Hazardspielers. Und wenn man für die letzten Gedankengänge des Metaphysikers und für die Kalküle der Burgstraßenherren das gleiche Wort „Spekulation“ anwendet, so ist doch nicht nur das Stoffliche, das Thema, sondern auch der Gedankenprozeß bei beiden grundverschieden. Der spekulative Philosoph baut auf schwankendem Boden; aber das Gebäude, das er errichtet, ist von feinster logischer Konstruktion. Der Börsenspekulant klammert sich an irgendeine reale Tatsache; aber schon die erste Hoffnung, die er darauf stützt, ist logisch nicht mehr standfest. Der eine konstruiert im luftleeren Raum; der andre errichtet ein Kartenhaus. Der eine baut auf Sand; der andre baut aus Sand. Beiden gemeinsam ist nur die Funktion, das Handeln-Müssen. Der richtige Börsenspekulant ist, wie der wirkliche Denker, ein Besessener. Und wie die geistige Spekulation letzter Ausdruck einer aufs Jenseitige gerichteten Epoche ist, so ist die Börse das vollkommenste Sinnbild einer nach Besitz, nach Geld jagenden Zeit. Die Funktion bleibt auch dort erhalten, wo der Inhalt, wo das Ziel zum Nichts geworden ist. Als in der Zeit des strengsten Sowjet-Kommunismus die Börsen geschlossen waren, da handelte man in Moskau Lagerscheine, von denen man genau wußte, daß sie keine Ware mehr vertraten, orientalische Noten, die längst verfallen waren, und auch diese chimärenhaften Dinge hatten einen Kurs, fielen gestern und zogen heute an. Man handelte, weil dieser Handel einer gewissen Schicht Lebensbedürfnis ist.

Das ist, wenn man so will, der ästhetische Wert der Börse an dem man als unbeteiligter Zuschauer seine Freude haben mag. Bedauerlich bleibt nur, daß es, streng genommen, unbeteiligte Zuschauer bei diesem unterhaltenden Spiel nicht gibt. Wir alle sind darein verwickelt: Akteure und Zuschauer. Denn letzten Endes muß das Publikum bezahlen, was dort gewonnen, was dort verloren wird. Das ist ja das Ungeheuerliche, daß eine verhältnismäßig kleine Zahl von Devisenspekulanten bestimmt, zu welchem Preis der Bürger sein Brot, seinen Anzug, seine Kohle kaufen muß. In der Blütezeit des doktrinären Liberalismus galt die Börse als die herrlichste Institution der modernen Wirtschaft. Hier hatte man ja den idealen „freien Markt“, auf dem Angebot und Nachfrage, ungehindert durch staatliche und zünftlerische Schranken, den Preis bestimmten. Heute wagt auch der eingefleischteste Manchestermann der Börse nicht mehr dieses Prädikat auszustellen. Wohl laufen auf der Börse alle Fäden der Wirtschaft zusammen; aber der Knoten wird geschürzt von einer Menschenkategorie, die weder nach ihrer weltwirtschaftlichen Übersicht noch nach ihrer volkswirtschaftlichen Bildung, weder nach ihrer Verstandesklarheit noch nach ihrem moralischen Verantwortungsgefühl geeignet ist, im Mittelpunkt des Wirtschaftsgeschehens zu stehen. Es mag zehnmal sein, daß jede Spekulation, die gegen die organische Wirtschaftstendenz gerichtet ist, auf die Dauer zusammenbricht. Einstweilen beherrscht der Spekulant das Feld und bestimmt die Lebenshaltung von Millionen und Abermillionen werktätiger Menschen. […]

Autor: Morus (Richard Lewinsohn)

In: Die Weltbühne, 16. November 1922, S. 529

Editionen: Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne, Berlin 2008, S. 254-256.

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