Die Berliner Morgenpost widmet sich derzeit in einer Serie verschiedenen „Liebesgeschichten aus Berlin“. In Folge 11 erklärt Anna Mertens das „Bilderbuch für Verliebte“, wie Tucholskys kurze Geschichte Rheinsberg im Untertitel heißt. Gegen Mertens‘ Interpretationen ist im Großen und Ganzen nichts einzuwenden, wobei eine Behauptung jedoch rätselhaft wirkt:
1912 erschien seine erste Liebesgeschichte unter dem Titel „Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte“ mit einem erstaunlich fortschrittlichen Frauenbild, dass der beziehungsunfähige Tucholsky im wahren Leben kaum unterstützte.
Was will die Autorin damit wohl sagen? Zunächst kann man festhalten, dass die „Claire“ in Rheinsberg durchaus eine „fortschrittliche“ Frau war, „daß sie Medizinerin war, wie sie zu sein vorgab, war kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend“, heißt es da. Auch die Beziehungsunfähigkeit, die Tucholsky unterstellt wird, trifft nach Ansicht seiner Biographen ebenfalls zu. Wenn Tucholsky also selbständige und emanzipierte Frauen nicht gut gefunden hätte, warum hat er 1920 ausgerechnet Else Weil, das reale Vorbild der „Claire“, geheiratet? Gerade weil um die Unzulänglichkeiten menschlicher Beziehungen wusste, lag ihm daran, dass auch Frauen in der Lage sein sollten, für sich selbst zu sorgen und nicht von einem verdienenden Ehemann abhängig zu sein. Sämtliche Frauen, mit denen Tucholsky länger liiert war, waren alles andere als „Heimchen am Herd“. Mary Gerold arbeitete vor und nach ihrer Ehe als Sekretärin in Verlagen, Lisa Matthias war Journalistin und Hedwig Müller praktizierte ebenso wie Else Weil als Ärztin. Was Tucholsky allerdings nicht verwinden konnte: am Ende seines Lebens finanziell nicht mehr unabhängig und selbst auf die Unterstützung einer Frau (Hedwig Müller) angewiesen zu sein. So progressiv war er im wahren Leben dann doch nicht.