Aus gegebenem Anlass sei hier auf einen Text verwiesen, der vor einiger Zeit in einer Tucholsky sehr nahestehenden deutschen Zeitschrift gestanden hat.
Raubstaat Liechtenstein
Eingeklemmt zwischen der Schweiz und Österreich liegt das sonderbare Staatsgebilde, das offiziell als Fürstentum Liechtenstein firmiert. Es hat zehntausend Einwohner und umfaßt drei Quadratmeilen Landes. Im alten deutschen Bunde war es vollberechtigtes Mitglied und nahm als solches 1866 an dem Kriege gegen Preußen teil, wofür es vierundsechzig Soldaten zu stellen hatte. Bei dem Friedensschluß wurde es von Bismarck vergessen. Friede zwischen Liechtenstein und Preußen ist nie geschlossen worden. Rechtlich befindet sich Vaduz seit 1866 noch immer im Kriegszustand mit Berlin, ohne daß sich daraus praktische oder gar blutige Konsequenzen ergeben hätten.
Staatsrechtlich ist Liechtenstein souverän. Wenigstens teilweise. Einen Teil seiner Souveränitätsrechte hat es nämlich an die Schweiz abgetreten, mit der es zum Beispiel in Münzunion lebt. Wegen des Verzichts auf einen Teil seiner Souveränitätsrechte konnte dem Wunsche Liechtensteins auf Aufnahme in den Völkerbund nicht entsprochen werden. Man darf den Völkerbund dazu beglückwünschen, daß er auf die Weise um die Belastung mit moralischem Ballast herumgekommen ist.
Was Liechtenstein an Souveränität übrig geblieben ist, reicht immerhin aus, um den Gebrüdern Rotter und andern Europäern gleichen Edelgehalts Schutz gegen den Strafrichter zu gewähren. Von allen Souveränitätsrechten liegt dem edlen Fürstentum natürlich weitaus am meisten an der Steuerhoheit. Dank ihr konnten sich fünfhundertundneunundsiebzig Aktiengesellschaften auf den drei Quadratmeilen ansiedeln. Dank ihr konnte die Landesbank Liechtensteins in die Gesellschaft der upper ten gelangen, in den Kreis der zehn mächtigsten Goldinstitute Europas. Gibt es heute noch eine sichere Geldanlage? fragt ein Finanzmann den andern. Jawohl, die gibt es, in Liechtenstein. Wer vor seinem eignen Finanzminister absolut sicher sein will, flüchtet sich nach Liechtenstein, in Person oder mit dem Sitz oder einer Filiale seiner Gesellschaft. Man kauft sich ein, durch Verhandlungen mit den Behörden des Fürstentums, von Gentleman zu Gentleman. Liechtenstein ist kulant. Der einzelne Finanzgewaltige braucht nicht viel zu zahlen. Die Masse muß es bringen: Fünfhundertundneunundsiebzig Aktiengesellschaften!
In der monarchistischen ‚Deutschen Zeitung‘ schreibt Hellmut Draws-Tychsen, dessen Spezialität das Studium der Zwergstaaten ist:
Ich will trotz meiner Bejahung der monarchischen Staatsform freimütig eingestehen, daß meine Hochachtung innerhalb der europäischen Miniaturstaaten den uralten, sauberen, freien, bescheidenen Republiken Andorra und San Marino gehört und nie und nimmer den korrupten Ländchen Monaco und Liechtenstein. Hier wünsche ich keine Freude zu haben, aber dort, wo die Einfachheit, die Gastfreundschaft, der Glauben und die Unverderbtheit herrschen. Tatkraft ist alles, denkt der Andorraner, wenn er dem kargen Boden eine karge Ernte abringt. Dagegen philosophiert der Liechtensteiner, der nichtstuerisch und genießerisch die Hände in den Schoß legen kann: Geld allein macht glücklich.
Herr Draws-Tychsen liebt Monaco und Liechtenstein gleich wenig. Er geht von der Moral aus. Die sollte man in solchem Fall ausschalten. Ob die Monegassen oder die Liechtensteiner moralisch höher stehen oder beide gleich niedrig, kann der Welt überaus gleichgültig sein. Was ihr nicht gleichgültig sein kann, ist die Schädigung, die sie durch die beiden Operettenstaaten erfährt. Und da liegt Liechtenstein mit mehreren Pferdelängen voran. In Monaco ruiniert sich wenigstens nur der einzelne Reiche, der das nötige Geld hat, um zur Spielbank zu reisen. Das ist eine Privatangelegenheit. In Liechtenstein dagegen sammeln sich die Milliarden, die Deutschland, Österreich und allen möglichen andern Ländern Europas entzogen werden. Die Kapitalfluchtgesetze werden zur Farce, solange die Hehlerhöhle Liechtenstein sich internationalen Schutzes erfreut. Die Steuerzahler ganz Europas müssen das aufbringen, was die Flucht ihrer potentesten Landsleute nach Liechtenstein ihnen entzieht.
Selbstbestimmungsrecht der Völker ist sehr schön. Aber Liechtenstein ist kein Staat mit Existenzberechtigung. Es ist ein Parasit, der auf allen andern Staaten herumschmarotzt. Es ist eine Eiterbeule.
Diese Eiterbeule muß aufgestochen werden. Mit dem Rest der Souveränität des Ländchens ist schleunigst ein Ende zu machen. Das ist eine Angelegenheit, die alle Völker Europas angeht. Denn die Steuerkraft aller wird von der Eiterbeule zerfressen.
Am einfachsten wäre es natürlich, wenn Liechtenstein der Schweiz einverleibt würde. Aber vielleicht widerstrebt ihr der Zuwachs dieses Mißwachses. Dann sollte Liechtenstein unter Völkerbundsverwaltung genommen werden. Irgendeine Lösung muß gefunden werden, um Europa von seiner partie la plus honteuse zu befreien. Man darf ein staatsrechtliches Naturdenkmal in dem Augenblick nicht mehr dulden, wo es sich als Vampyr herausstellt, der allen Nachbarn das Steuerblut aus den Adern saugt.
In: Die Weltbühne, 21.2.1933, S. 297
[…] Muss die Geschichte des Nationalsozialismus und deutschen Antifaschismus vielleicht umgeschrieben werden? In einer philologischen Schnellstudie für den "Blogblick" der Netzeitung hat Maik Söhler in der "Weltbühne" Passagen gefunden, "die von der nationalsozialistischen Durchdringung einer der wichtigsten Publikationen der Weimarer Republik zeugen". Genauer gesagt, er hat den hier veröffentlichten Text "Raubstaat Liechtenstein" von Hellmut von Gerlach gelesen und ist dabei auf die Begriffe Schmarotzer, Eiterbeule und Vampyr gestoßen, die seiner Meinung nach "reiner NS-Duktus" sind und darauf verweisen, "in welchem Kontext die Weltbühne im Februar 1933 erschien", wie er auf Anfrage erläuterte. Bei Texten von Tucholsky oder Ossietzky aus der "Weltbühne" habe er dagegen solche Passagen nicht gefunden. […]
[…] gegebenen Anlässen sei hier mal wieder auf Auszüge eines Textes verwiesen, der vor einiger Zeit in einer Tucholsky sehr nahestehenden […]
[…] gegebenen Anlässen sei hier mal wieder auf Auszüge eines Textes verwiesen, der vor einiger Zeit in einer Tucholsky sehr nahestehenden […]