Da drüben an der Wand hängt er, das Bild hat er mir selbst geschenkt, und auf die Rückseite hat er etwas draufgeschrieben. Der Kopf mit der grauen Maurerfreese sieht an Herrn Courteline vorbei. („Wir kenn uns zwah nich vaständijen“, sagt das Bild, „aber wir leben in Freundschaft. Valleicht jrade deswejen.“) Die Franzosen fragen: „Wer ist das?“ – „Heinrich Zille“, sage ich. „C’est un peintre allemand.“ Aber das ist nicht wahr. Er ist viel mehr.
Jetzt liegt von ihm das stärkste Buch vor, das über Berlin erschienen ist: ‚Berliner Geschichten und Bilder‘ (bei Carl Reißner in Dresden 1924).
Paris hat unter den lebenden Inkarnationen seines Stadthumors einen Mann, der unserm Zille als Zeichner manchmal nahekommt: das ist Poulbot, der Kinder-Poulbot, der die frechspitzige, ausverschämte, über alle Pflaster trudelnde, frühreife und auch bemitleidenswerte ‚gosse‘ gezeichnet hat. (Am letzten Weihnachtsabend hat er seine ‚gosses‘ sogar selbst beschert.) Wien hat die Verniedlicher seines Stadthumors, die einem den ganzen Humor verrunjenieren können. Berlin hat beides.
Es ist so schwer, von berliner Humor zu sprechen, weil eine Unzahl kleinbürgerlicher Schmieranten sich auf diesem Gebiet niedlich machen. Eine mit Glace oder Zwirn behandschuhte Rechte faßt vorsichtig die ‚kleinen Leute‘ am Schlafittchen und führt sie dem geschmeichelten Bürgerpublikum vor, immer mit dieser fatalen Attitüde vermeintlicher Echtheit, mit dem falschen Ton von Mitleid, dem falschen Grausen, dem falschen Humor, vor dem Gott erbarm. Es ist derselbe Humor, mit dem sich Kammergerichtsreferendar Lehmann auf dem juryfreien Ball als ‚Lude‘ verkleidet. – Jeder weiß doch, daß er keiner ist, Gottseidank, aber es macht sich so schön romantisch. Es ist der Humor der ‚Lustigen Blätter‘, der den Konfektionären die Opfer ihrer Zwischenmeister ulkig-dreckig, ulkigschwanger, ulkig-besoffen vorführt – das eigne Badezimmer in der Bayreuther Straße blitzt noch einmal so nett. „Pfui Deibel – wie komisch!“ Kommt noch ein Tropfen Schmalz in diese Suppe – von wegen: Grunewald mit seinen abendlichen Föhren – dann ist das Unglück fertig, und der Magen dreht sich einem im Leibe herum, wenn man sieht, wie Berlin diskreditiert wird.
Heinrich Zille ist vor dem Kriege und im Kriege manchmal das Opfer dieser Auftraggeber geworden. Er hat Sachen zeichnen müssen, die man ihm aufgegeben hat, und die ein andrer ein bißchen schlechter gezeichnet hätte; er hat im Kriege eine gradezu schauerliche Serie vom Stapel lassen müssen, die von Berlin und vom Kriege gleich weit weg lag und mit beiden nur die Gemeinsamkeit hatte, daß sie beiden zum Verkauf angeboten wurde; er hat manchmal ulken müssen, wo er ganz etwas andres tun wollte. Von den Zeichnungen in diesem wundervollen Buche erschiene auch nicht ein Dreißigstel in einer Zeitschrift; alle Zeitungen lobendes, keine würde je wagen, auch nur den Schimmer eines Abglanzes davon bei sich aufzunehmen. Warum nicht? Das ist ganz einfach. Ein Buch hat keine Inserate.
Heinrich Zilles Geheimnis liegt in dem ersten Satz seiner Lebensbeschreibung, die das Werk einleitet: „1872 lernte ich Lithograph.“ Zille ist ein Handwerker. Er hat etwas gelernt, er hat es gut gelernt, und er hat diese handwerkliche Basis niemals verlassen. Es ist sehr interessant zu beobachten, wie in dem Buch alle Stadien vorhanden sind: von dem naturalistischen Bemühen, „det Ding abzuzeichnen“, bis zu der letzten Formulierung, die es nicht mehr nötig hat und souverän fortlassen kann (aber anders als die jungen Herren, die wuscheln, weil sie gar nichts können). Zilles Seele ist ganz Berlin: weich, große Schnauze, nach Möglichkeit warme Füße, und: allens halb so schlimm.
Stammbaum: kleinbürgerlich. ‚Mein Vater‘ ist ein recht charakteristische Blatt: der alte Mann steht, ernst und vertieft in seine Arbeit, am Schraubstock, und draußen grinsen zwei ‚Ssijeuner‘ rein, rumstrolchende Kerls, die ein bißchen frech, ein bißchen neidisch, ein bißchen verzweifelt diese kleinbürgerliche Burg von außen anlachen, die der sich da aufgerichtet hat. Schließlich ist ja das die Sehnsucht der obern Schicht, die Zille verarztet: Kleinbürger und solche, die es werden wollen. (Darüber hinaus langt er kaum: wenn er ‚feine Leute‘ zeichnet, sind es entweder bewußte Übertreibungen, wie sie sich im Auge derer da unten spiegeln, oder rührende Schießbudenfiguren.) Hier, in dieser Kleinbürgerschicht wohnt die Idylle, die Zille bald bekannt und beliebt werden ließ: ‚Restaurant zum Nußbaum‘, die kleine gelbe Lampe auf dem Wackeltisch, die dicke Marie hinter der Theke, die geschäftige Schwangere, die mit dem Korb einholt, das Jör, das unerschöpfliche Jör, dem vorn und hinten das Hemd herausguckt, dem die Nase läuft, von andern Dingen ganz zu schweigen, das brüllt, hopst, tanzt und popelt. Bis dahin gut und gern genehmigt: Zille war eine Witzblatt-Type, eine unfehlbar sichere Nummer, ein von allen ordentlichen Menschen gern gesehener Bestätiger ihrer Ordnung, die er durch die ausgezeichnete Schilderung des Gegensatzes hob. Darunter fängt der eigentliche Zille an.
Da, wo das Proletariat Lumpenproletariat wird; da, wo es nicht mehr lohnt, zu arbeiten – arbeiten und verzweifeln! -; da, wo es überhaupt keinen Sinn mehr hat, etwas zu tun, wo man sich fallen läßt, ohne daß einen etwas andres mütterlich aufnimmt als das Wasser – da hat er sich zu einer Größe emporgereckt, die erschreckt. Tragik? Auf berlinisch? Auf berlinisch: also janz stike, nachdenklich, der Mensch wird zum alten Eisen, aber er rufts nicht mehr aus.
Hier berührt sich Zille mit der Kollwitz. Wo sie eine Sonate spielt, zimpert er auf einem alten Leierkasten, und man heult wie ein Schloßhund. Das Wort der Wörter steht in diesem Buch, unübertrefflich, ein für alle Mal, kaum stilisiert, wahrscheinlich abgehört, einfach so herausgewachsen aus dem Boden von Dreck, Suff, Tuberkulose, Wohnungselend: „Weißte – man darf jahnich drüber nachdenken!“ Aber manche denken doch noch darüber nach, das sind die Gefährlichen …
Zille hat das Amoralische im Blut. Er urteilt nicht, er zeichnet. Er richtet nicht, er empfindet. Bibel? Strafgesetzbuch? Seine Leute sind längst darüber hinaus – Pastor und Landgerichtsrat sind für sie mehr oder weniger unangenehme Vertreter eines Systems, dessen Wirkung sich vor allem darin widerspiegelt, daß es ungeheuer viel Zeit kostet. Verhaftet werden, warten, eingesperrt sein, noch mal warten, ermahnt, angeschnauzt, verurteilt werden – es dauert alles so lange … Aber weiter ist auch nichts.
Da ist Zille, unser Zille. Die Kindsleiche im Mülleimer; die Schwangere, die nicht weiß, ob das im Arm noch lebt, wenn das im Leib da ist; Orje, der nicht einmal mehr von den Schutzpolizisten gehört wird, wenn er schimpft, weil es nicht lohnt; die Frau, die mit zwei Kindern ins Wasser geht, rasch, eilig, sie mag nicht mehr, nicht aufhalten!; die Kindergruppe, die „Liehieb Heiheimatland – adee – Plötzensee!“ singt, ein Blatt von seltener Tragik: wie man im Lachen auf einmal sieht, daß nicht ein unlädiertes Kind dabei ist, alles ist verbogen, kurzsichtig, hat die englische Krankheit, ist zurückgeblieben; ein lebendes Skelett, das in einem Bettsarg verfault, darunter: „Unser Leben währet 70 Jahr, und wenn es hoch kommt … „, wahrscheinlich hat der Mann als Kind in der Schule die segensreichen Sozialeinrichtungen des Deutschen Reichs nicht ordentlich gelernt; kindische Greise und vergreiste Kinder – der Zeichner hebt kaum die Stimme: er erzählt.
Im finstersten Finstern glüht dann immer der Funke des echten Humors auf, und wie berlinisch ist der! „Mutter“, fragt das Kind, als sie ihr Mittagessen im Topp zu Vatern tragen, „wächst sone Wurst immer wieder?“ (Denn so sieht die Abteilung: Naturgeschichte im Kinde aus.) „Ick habe“, sagt Mudicke, „meine Selige übalebt, ick habe Kaiser Wilhelm übalebt, ick werde auch die Republik übaleben!“ Das walte Gott. Und wenn die möblierte Wirtin reinkommt und sieht ihre Tochter nackedei in der Flohkiste liegen, davor ihren Mieter, den Fotografen, so entlädt sich Pädagogik, mütterliche Würde und die Ordnung des Hauses in folgenden ganz ruhigen Worten: „Wat is denn det nu wieder forne neie Afferei mit Lotten, Herr Doktor!“ Und der Herr Doktor erklärt es ihr, und dann ist alles gut.
Erstaunlich, wie modern dieser alte Mann ist. Die Versuche, ein Witzblatt zu schaffen – Deutschland besitzt keins – hat auf der sozialdemokratischen Seite zu einem Blatt geführt, das alle Papierkörbe des alten ‚Simplicissimus‘ neu auflegt und ganz vergessen hat, daß es das alles nicht mehr gibt: diese Bürger nicht mehr, Herrn Baluschek nicht, die Großstadttragik der alten Naturalisten nicht, diese Serenissimi nicht … aus, vorbei. Auf der kommunistischen Seite probiert man noch, manchmal trifft mans, meistens nicht. Zille gehört zu den Neuen, weil er unbarmherzig sein kann und Herz hat, weil er vor Mitleid mitleidslos schildert, weil er die Ruhe weg hat.
Du hast mal gesagt, du sähest aus wie ein Droschkenkutscher, Heinrich Zille. Laß man. Wenn du in Himmel kommst, denn klebt dir der liebe Gott Flügel hinten an Rücken, steckt dir ’n Posauneken in die Hand und drückt dir ’n Kranz ins Haar. Und denn nischt wie mit Hallelujah immer rauf und runter. Und wenn dann die Leute fragen: „Wer singt denn ja oben so schön falsch?“ – dann will ich ihnen antworten: „Pst. Da oben fliegt Er. Berlins Bester.“
Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 20.1.1925, Nr. 3, S. 95.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff.,
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 18 ff.
[…] Der Maler und Graphiker Heinrich Zille ist am heutigen Tag vor 150 Jahren geboren worden. In ihren Würdigungen Zilles hoben die Nachrichtenagenturen dpa und epd auch die besondere Verehrung hervor, die Tucholsky für Zille empfand. Diese manifestierte sich beispielsweise in dem langen Text "Berlins Bester", der im Januar 1925 erschien. Zum Tode des Malers im August 1929 dichtete ihm Theobald Tiger einen Nachruf, aus dem dpa die Zeilen zitierte: "Du kennst den janzen Kleista – den ihr Schicksal: Stirb oda friß! Du warst ein jroßa Meista. Du hast jesacht, wies is." […]
[…] Berlins Bester […]