Q-Tagebuch (Beilage zum Brief 19. und 20.12.1935 an Hedwig Müller)

Edel – Voll – Saft – Milch – Stromlinien –
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Trocken – Beeren – Auslese – Tagebuch
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ge4t 4 die un2felhafte Nuna
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Ich kann mich irren: mir ist so, wie wenn aus meinem Brief nach Oslo etwas kommen wird. (Aus Basel wird gar nichts kommen.) Sollte das Arbeiterblatt nicht anspringen, wende ich mich an die Studenten, die einen großen von hundert und mehr Namen unterzeichneten Aufruf für Oss erlassen haben. Es scheint doch da ganz anders auszusehen als hier. Die Frauen haben protestiert; einer schreibt über Hamsun «Feigling oder Narr», und es geht munter her; er hat mächtig auf den Kopf bekommen. Sein Aufsatz selbst ist nicht einmal hämisch – er ist so dumm, daß man gar nichts sagen kann. Nur einen Fußtritt. Melodie: O. habe ja fliehen können, er habe es selbst geschrieben. Aber das hat er 1932 geschrieben, als Antwort auf ein sagen wir ordnungsgemäß ergangenes Reichsgerichtsurteil – nicht jetzt, wo sie ihn widerrechtlich eingesperrt haben. Eine Frau berichtet in einem ausführlichen Artikel, wie es ihm geht. Mir fehlen natürlich manche Vokabeln, im großen ganzen sieht es so aus:

Der letzte Besuch, den er gehabt hat, soll im Juli 35 stattgefunden haben; die Besucherin (seine Frau) soll entsetzt gewesen über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen ist. Ein alter Mann, der zittert. Viele Herzattacken, daraufhin Dispens von der Arbeit, dann Wiederaufnahme. Einer der Knechte: «Wenn ich Dich Schwein niederschießen könnte, würde ich meinen Urlaub draufgeben!» Die Tatsache, daß er für den Nobelpreis vorgeschlagen worden ist, soll einen «Übergriff niederer Instanzen» bisher verhindert haben – andererseits ist die Gefahr gewachsen, weil er ihn nicht bekommen hat. Kameraden sollen ihm in der aufopferndsten Weise geholfen haben, aber das ist für sie selbst gefährlich. Bei den mindesten Vergehen gibt es Prügelstrafe – 25 Hiebe, die der Gefangene zählen muß, die Schläge, die er nicht zählt, gelten nicht und werden nachgeholt. Es sind bis zu 60 Schlägen vorgekommen. Nach der Schilderung habe ich den deutlichen Eindruck, daß sie ihn eines natürlichen Todes sterben lassen wollen. Er scheint im letzten Jahr nicht geprügelt worden zu sein.

Bitte lach mich nicht aus, daß ich immerzu hin und her schwanke – die Sache ist sehr einfach: ich habe ein böses Gewissen. Die Frage «Deutschland» ist für mich gelöst – ich hasse das Land nicht, ich verachte es. Aber im Falle Oss bin ich ein Mal nicht gekommen, ich habe damals versagt, es war ein Gemisch aus Faulheit, Feigheit, Ekel, Verachtung – und ich hätte doch kommen sollen. Daß es gar nichts geholfen hätte, daß wir beide sicherlich verurteilt worden wären, daß ich vielleicht diesen Tieren in die Klauen gefallen wäre, das weiß ich alles – aber es bleibt eine Spur Schuldbewußtsein. Dazu kommt, daß der Mann natürlich für mich wie für alle seine Mitarbeiter mitleidet. Daher mein Schwanken.

Lassen mich die in Oslo heran, so gehe ich so scharf heran, wie noch nie – und ich lasse mich auch davon nicht abbringen. Etwa im Stile der Frau, die mir im Sommer geschrieben hat … also das nicht. Über den Nobelpreis werde ich nichts sagen und kaum etwas schreiben – darauf hat keiner einen Anspruch, und es erscheint mir als ein Denkfehler, die Kommission zu beschimpfen, die ihm den nicht gibt – natürlich aus Feigheit nicht gibt, was die Norweger auch ganz deutlich sagen. Aber diese Kritik gefällt mir nicht, wenn sie von mir kommt.

Daß ich ihm schade, glaube ich nicht. Alles Schweigen hat ja auch nichts geholfen. Natürlich schweige ich, wenn ich auf einen Widerstand in Norwegen stoße, mit Gewalt ist da nichts zu machen. Artikel in den Blättchen … davon verspreche ich mir gar nichts. Das mache ich unter keinen Umständen.

Im Grunde würde natürlich auch mein Appell wirkungslos sein – ich weiß das. Das, was die Kaffern «europäisches Weltgewissen» nennen, gibt es gar nicht. Aber, wie es in einem alten Stück heißt: «Man muß protestieren.» Wenn möglich, werde ich das tun.

Und ich habe den Eindruck, daß da ein ganz anderer Widerhall sein wird als hier, im Lande des Kartoffelmehls.

Woselbst – ohne die ungeheuerliche Ironie zu ahnen – ein nach der bürgerlichen Seite umgefallener Mann neulich bei dem hiesigen Ullstein geschrieben hat: «Der König, der am sichersten in Europa auf seinem Thron sitze, sei der hiesige. Vorausgesetzt, daß alles so bleibt, und daß die Monarchisten nicht zur Macht kommen. Aber solange er von Sozialdemokraten umgeben sei …» Dies aber durchaus nett gemeint. Genau so sind sie. Eine verächtliche Gesellschaft.

Und während der im Konzentrationslager leidet, muß man photographiert sehn, wie der große Sportredakteur Stockholms wohnt … wie ein Fürst. Er wird zu den Olympischen Spielen fahren, und es wird ein großer Erfolg sein.

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Brüning hat um die Erlaubnis gebeten, nach Deutschland zurückzukehren. Ein Jude, auch er. Wenn Du damals erlebt hättest, wie dieser Kerl, der den Fascismus vorbereitet hat, das Maul aufgerissen hat, wie er Hitlern bekämpft hat … und nun kommt er gekrochen. Natürlich haben die Deutschen verlauten lassen, sie hätten ihm nie den Aufenthalt in Deutschland verboten. Wie sagt Halperin? «Und was ist jetzt –?» Aber sage das den Herren Brüning, Wolff pp. – sie werden es gar nicht verstehen.

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Aus den Erinnerungen des alten berliner Zeichners Zille:

In der Malplaquet-Straße war ein Pferd gefallen. Schutzmann, Auflauf. Nun konnte aber der Schutzmann das Wort «Malplaquet» nicht schreiben. Daraufhin schleiften sie das Tier in die See-Straße, und da wurde denn das Protokoll aufgenommen.

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Die Argumentation von Frauen ist überall die gleiche. Bei Fontane, der das wohl bei seiner Frau gelernt hat, stehen solche Sachen. Die Zimmervermieterin, die mit ihrer Tochter ins Theater zu ‹Kabale und Liebe› geht, sagt, als der alte Kammerdiener auftritt: «Sieh doch mal auf dem Zettel nach, wie der heißt – er zittert ja so furchtbar», eine logische Verbindung, die nur eine Frau fertig bringt. Und ganz herrlich bei Siménon, wie der Held seiner kleinen Negerin (die mich übrigens merkwürdig an die Gräfin erinnert, in ihrer Vogelhaftigkeit – o wie o) – also er macht ihr Vorwürfe, sie habe mit einem Neger etwas gemacht. «Mais ça ne fait rien», sagt sie, «je ne le connaissais même pas.»

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Aus dem einzigen pornographischen französischen Buch, das ich besitze: «Elle ne savait si le savoir-vivre de cet acte réclamait qu’elle avalât tout. Une femme de bonne éducation ne crache pas.»

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Daß ich mein Leben zerhauen habe, weiß ich. Daß ich nicht allein daran schuld bin, weiß ich aber auch. Mein Gott, wäre ich in Frankreich geboren …! Ich brauche mich nur ans Klavier zu setzen und an den Heggitschwyler zu denken, dessen Namen ich nie richtig schreiben werde, und mir fallen die Chansonskizzen haufenweise ein. Ich will nicht sagen, daß das alles so herrlich witzig und schön auf Anhieb ist – ich arbeite natürlich nichts aus, denn wozu? Dazu müßte ich die Stadtchronik kennen, mit dem Kollegium, das diese Sachen da baut, zusammen saufen, lachen und leben – dann flutschte es nur so. Wie also zum Beispiel der Emil unter einem triefenden Regenschirm steht, alles an ihm trieft, und hinter der Bühne arbeitet eine Regenmaschine, (Erbsen auf Blech, das kostet gar nichts), und er singt ein Lied, dessen einzelne Strophen alle anfangen:

Wenn es in Zürich regnet – –

ein langsamer Walzer in Moll. Und dann zählt er lauter Sachen auf, die man bei euch vermißt, und dann heißt es immer: z.B. (Daß die – wo die Fronten verwalten – auch ihre Versprechungen halten –)

Das ist mir noch nie begegnet –
Wenn es in Zürich regnet – –

Texte im Dreivierteltakt kann man übrigens nicht aufschreiben, dazu gibt sich die deutsche Sprache nur sehr schwer her. Ich kenne Noël-Noël (den Du nicht versäumen solltest, wenn er mal im Film auftritt, wo er eine Figur namens Ademai erfunden hat) – ich weiß, wie man das macht. Französisch könnte ich das natürlich nie – dazu muß man mit einer Sprache aufgewachsen sein. Aber ich weiß, daß dieses Talent in mir beinah tot schlummert – wenn man Bellmann, den Schweden, und die französischen Chansonniers nicht ermuntert hätte, dadurch, daß man ihnen zuhört, wären sie auch nichts geworden. Mich haben sie falsch geboren.

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‹Menschen in Weiß› sollte man ganz anders auffassen. Heute, wo sich jeder einen weißen Schutzrock anzieht, wenn er seine Sache macht, bekommt dieser Rock eine gradezu symbolische Bedeutung. Nämlich die: der Verantwortungslosigkeit nach außen. Es ist viel leichter, in der Schweiz das Kaisertum einzuführen, als vom Publikum her den Fahrplan der städtischen Straßenbahn zu ändern. Wer Humor hat, prüft sich selbst –: wir sind alle so. («Da könnte ja jeder kommen – irgend jemand von außen!») Diese Selbst-Aufgabe des Individuums, wenn es in der Gruppe aufgeht, ist eine Sache, die jedesmal, im Einzelfall, fast mystisch vernebelt wird – aber wäre dieses soziologische Gesetz, denn es ist eines, ins Bewußtsein der Massen gehoben, wäre manches getan. Die Vergottung der Institution und ihrer Spielregeln ist etwas unsagbar widerwärtiges. «Aber sonst könnte keine Ordnung sein!» – Ohne Regeln: nein. Ohne Vergottung: ja. Wieviel Fehler werden damit verborgen.

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Daß Du mich nicht für einen Troppel hältst: ich schreibe dieses alles so kunterbunter für Dich auf, dies ist ja keine Literatur. Ich gebe mich also bezüglich Oslos keinen Illusionen hin – wenn ich dahinkäme, wird es so aussehen wie überall auch. Kaffern – die dicken Koofmichs – idealistische Studenten, die leider, leider, ihren Idealismus nach dem russischen Winde hängen – ich weiß das alles. Irgend eine Hoffnung für die Zukunft ist das nicht. Aber immerhin – – –

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Daß Bern einmal ein Exempel an einem Boche statuiert hat, freut mein Herz. Dieser Bundesstenograph, der erst dem Nationalsozialismus abgeschworen hat, um seine Pension nicht zu verlieren, ist so recht ein schönes Beispiel für die couillons. Entweder und oder. Behandelte man sie aber alle so, hätte man diese Sache von Anfang an so behandelt –: wir ständen heute anders da.

Über die klägliche Haltung Brünings gibt es übrigens eine Prophezeiung Ossens aus dem Jahre 1932, die etwas Staunenswertes hat. Diese Satire, die damals wild ausgreifend erschien, wirkt heute fast zahm – sie ist zu optimistisch. Aber er hat gesagt, Brüning bitte dann um Eintritt in die Reichswehr, unter Schleicher als Feldwebel. Im Geistigen ist das ganz richtig. Und schließt, im Hinblick auf die liberalen Republikaner, Ullsteine und andern:

«Wir haben keine Wähler mehr und keine Leser, man hat uns windelweich geprügelt, man hat uns das Rückgrat gebrochen, aber nicht unsere unbeugsame Entschlossenheit, uns so lächerlich wie möglich zu machen.»

Heiliger Hilferding! Bitte für uns.

P.S. Daß der Mann im Februar nicht gegangen ist, halte ich jetzt für eine klare Haftpsychose.

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Pladderadatsch. Die Osloer haben gesagt, wenn es etwas früher gekommen wäre, dann hätten sie sich sehr gefreut. Das glaube ich deshalb, weil sie der Sache sehr viel Raum gewidmet haben – man kann da nichts sagen. Schade. Ich berichte dann weiter; ich muß mal sehn, ob ich man nicht doch etwas drehn kann.

Kommentare (2)
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  • Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » Texte zum Anprangern

    […] Aber an welchem "Pranger" hat Tucholsky dies kundgetan? In einem persönlichen Brief an seinen Freund Walter Hasenclever. Es davon auszugehen, dass Schumann und die Welt-Redaktion unter einem Pranger auch eher ein öffentliches Instrument verstehen, um Menschen bloßzustellen. Zwar hat sich Tucholsky bisweilen in Briefen über Ossietzky beschwert. Aber er hat ihn nie als Herausgeber der Weltbühne öffentlich angegriffen oder ihm gar in der Presse vorgeworfen, den Nazis in die Hände gefallen zu sein. Im Gegenteil. Zum einen hat er sich in einem Brief an das Nobelkomitee für die Verleihung des Nobelpreises an Ossietzky eingesetzt. Zum anderen entschied er sich 1935 dazu, sein seit Jahren währendes öffentliches Schweigen zu brechen und sein literarisches Idol Knut Hamsun anzuprangern, weil dieser Ossietzky als Pazifisten attackiert hatte. […]