Kurt Tucholsky, 1890-1935, war einer der ersten Blogger. In seinem schwedischen Exil kommentierte der „aufgehörte Schriftsteller“ mit kurzen Bemerkungen und Zitaten das Weltgeschehen. Sein Blog nannte er „Q-Tagebücher“ (Q von: „Quatsche“). Da das Internet damals noch sehr langsam war, schickte er die Texte der Einfachheit halber per Post an seine einzige Leserin, seine Zürcher Freundin Hedwig Müller. Zuvor hatte er als Journalist von 1913 bis 1932 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften die Medien beobachtet, natürlich auch die Boulevard-Zeitungen. Es scheint sich seitdem wenig verändert zu haben.
Der Ursprung der Nachrichten hat sich kaum verändert. Von mäßig bezahlten Reportern mäßig aufgenommen, mit kleinen Mitteln rasch zusammengeklaubt, nicht einmal so tendenziös gefärbt wie unsorgfältig zusammengehauen, gehen die Telegramme ihren Weg. Früher druckte man sie ab. Heute macht man sie auf. Was, man macht sie auf! Man macht sie überhaupt erst zu Etwas, man schöpft und schafft aus dem Nichts, man erfindet Wahrheiten. Im Anfang war die Überschrift. Das kleinste Lausetelegramm kann durch geschickte ‘Aufmachung’ zu einer Art Sensation werden. (…) Aber was ist das alles gegen das Bild –!
Das Bild ist die Schule der Weisheit des kleinen Mannes. Und wieviel große Männer bei uns sind nicht kleine Männer! Das Konkret-Anschauliche wird mit Recht immer den Sieg über das Abstrakte davontragen – aber nun sehe man sich an, wer diese Bilder herstellt, wie sie hergestellt sind, und wer sie aussucht! Über politische Tendenz kann man streiten, über ästhetische Begriffe kann man verschiedener Ansicht sein – aber über den vollkommenen Stumpfsinn dieser Bilder gibt es wohl nur eine Meinung. Nämlich die: Wie ungeheuer interessant! „Die Kronprinzessin von Kambodscha nach dem Tennisturnier.“ „Vizepräsident Schindanger legt einen Kranz auf den Gedenkstein des 500. deutschen Rhönsegelflugsportlers nieder.“ „Baby aus Maori, hinten geimpft.“ Man könnte getrost die Unterschriften vertauschen, es merkt ja doch keiner.
Die Technik schreitet fort. Artikelüberschriften und Bildunterschriften sind das Gebiet eifrigsten Studiums. Kein Zeitungsmann zerbricht sich den Kopf so über die Gewinnung neuer wichtiger Nachrichten wie über die Textierung des alten herkömmlichen Materials. Es hat sich nicht geändert – aber es wird jetzt viel feiner verpackt.
(…)
Ein Königreich für einen Titel! Die Zeitungen habens verschuldet, deren geschickteste Angestellte sich den Kopf zerbrechen müssen, um einen Titel, ein lockendes, fettgedrucktes Wort zu erfinden … Es ist nicht zu tadeln, wenn eine gute typographische Druckanordnung die Orientierung des Lesers erleichtert, – aber das geschieht bei uns auf Kosten des Inhalts. Die Überschrift macht den Kohl fett, der sonst so fad wäre, daß ihn niemand schlucken möchte.
Wenn die Überschrift noch den Extrakt der Nachricht, des Artikels enthielte: keine Spur! Anreizen soll sie, und die Folge ist, daß der ewig überhungrige Leser die dünne Kaviarschicht durchbeißt, auf den pappigen Teig stößt und dann das Ganze überdrüssig wegwirft. So werden viele guten Dinge diskreditiert: nur durch die Überschrift. Es gibt gerade in Berlin Zeitungen, die es darin zu einer beängstigenden Fertigkeit gebracht haben. (…) In dieser Art: weil man erstens in der Regel nur Triviales zu bieten hat und zweitens der verhätschelte Leser für ernste und anstrengende Dinge nicht zu haben ist, verputzt man einen an sich gleichgültigen Aufsatz mit glitzernden Mätzchen und krönt ihn mit der Krone des Kolportageromans, mit einem wilden Titel. (…)
Die Weltgeschichte fix und fertig für den Gebrauch von Schwachsinnigen.
Diese aufgeregte Stagnation ist ein getreues Abbild der Gesellschaftsordnung, die sie hervorbringt. Eine lärmende Langeweile und ein tiefes Unrecht dazu: eine Verschleierung der Wahrheit und die Ablenkung vom Wesentlichen.
(Zusammengestellt aus: „Die Überschrift“, in: März, 21.2.1914, S. 281 und: „Der neue Zeitungsstil“, in: Die Weltbühne, 16.12.1924, S. 918)
Tucholsky hätte seine wahre Freude am Medium Internet gehabt. Vielleicht hätte er ja auch diesen unsäglichen Franz Josef Wagner mit Hass-emails bombardiert, wie es viel mehr tun sollten…
„… Hass-emails“…“?
D/Mein Trödel-Bruno…!
K.T. hätte erstens Desuch geschrieben, vielleicht so: „E.-Briefe“! – Aber er hätte keine Hass-Briefe versandt!
Kennst du „Brief an eine Katholikin“; nein, keine -skin?
http://www.textlog.de/tucholsky-brief-katholikin.html
„Hass“ ist der unsinnigste Begriff für K. T., Leidenschaft, Erkenntnis zu schaffen – und ja: Lust zum Selber-Denken.
Glück und Denk auf!
Schönen Daseins-Gruß!
… von Antoninus K.T.
P.S.:
Auch seine „Kinderstube“ widersprach dem; s.:
http://www.textlog.de/tucholsky-kinderstube.html
Auch Hass war Tucholsky nicht fremd. So heißt es in dem programmatischen Text „Wir Negativen“:
„Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, daß dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.“
Auch für F.J. Wagner hätte Tucholsky bestimmt noch ein bisschen Liebe übrig gehabt.