Tucholsky kannte seine Tricks, um die journalistische Distanz gelegentlich zu überwinden. So schrieb er im Juli 1913 als Peter Panter über einen Auftritt der Schauspielerin und Diseuse Gussy Holl:
Hier lasse ich als Rezensent die geforderte Objektivität völlig vermissen. Ich bin verliebt (darf es, weil ich ein Pseudonym bin), der zitternde Kohinoor entgleitet der Hand, ich liebe alles an ihr: ihr Kleid, ihre dünnen Arme, das Fräulein Holl und die Gussy. (…) Abgesehen von meiner Verliebtheit: sie ist wirklich so. Und ihr werdet mir doch die Freude nicht verübeln, mich, wie in meinen Kindertagen, in die ‚Schauspielerin‘ zu verlieben: nicht in eine Frau – denn ist es auszudenken, daß sie einen je küßte? – sondern in ein Zauberwesen, das nicht ißt, nicht schläft, nicht lebt, sondern das nur singt, Kußhände wirft und vom lieben Gott eigens dazu geschaffen ist, uns armen jungen Leuten Trost einzuflößen, den wir durch unsre Familie wohl verdient haben.
Letztere Bemerkung war durchaus ernst gemeint. Denn mit seiner eigenen Mutter stand Tucholsky zeit seines Lebens auf Kriegsfuß. Gussy Holl nannte er dagegen in seinen Briefen liebevoll „Mamma“. Ob Tucholsky „aus Liebe zu ihr zum Chansontexter“ wurde, wie der Tagesspiegel behauptet, sei dahingestellt. Fest steht zumindest, dass die Diseuse nach ihrer Scheidung von dem Schauspieler Conrad Veidt nicht den Schriftsteller Tucholsky, sondern einen weiteren Schauspieler, Emil Jannings, heiratete. Tucholsky, der das Paar später häufig besuchte, schenkte ihnen noch im Hochzeitsjahr 1923 ein Gästebuch mit der Widmung „Der guten Gussy und dem lieben Ämil von Theobald Tiger“ sowie einem Geleitwort:
Gäste sind in aller Welt die gleichen
Kommen, essen, trinken, plaudern, gehen
und sind auch von hinten lieblich anzusehen.
Wer sich bis 1931 in dieses Gästebuch eingetragen hat, kann am Mittwoch in Berlin begutachtet werden. Denn die Deutsche Kinemathek hat im Herbst das Gästebuch mit 170 Einträgen für 8500 Euro ersteigert.
Die Präsentation beginnt am 12. Dezember um 19 Uhr im Museum für Film und Fernsehen im Filmhaus am Potsdamer Platz in Berlin. Überreicht wird das Gästebuch von dem Drehbuchautor und Regisseur Fred Breinersdorfer. Anschließend erzählt der Regisseur Jörg Jannings von seinem Onkel und trägt aus unbekannten Briefen sowie Texten von Tucholsky, Carl Zuckmayer, Joseph Roth, Kurt Pinthus und anderen vor.