Eines lässt sich von den Briefen, die in den jüngst erschienenen Band 18 der Tucholsky-Gesamtausgabe aufgenommen wurden, sicherlich nicht behaupten: Dass sie ihren Verfasser in den Jahren 1925 bis 1927 in einem besonders schmeichelhaften Licht erscheinen ließen. Dies gilt vor allem für die Jahre 1926 und 1927, in denen es Tucholsky in den zahlreichen Schreiben an seine zweite Frau Mary Gerold meist um zwei Dinge ging: das liebe Geld und die perfekte Wohnung. Vor allem nach dem Tode Siegfried Jacobsohns im Dezember 1926 und dem erzwungenen Wechsel von Paris nach Berlin gerieten die Briefe häufig zu einem einzigen Lamento: Berlin ist „widerwärtig“, Edith Jacobsohn „völlig untüchtig“, Carl von Ossietzky „schlapp“ und „mir ist hundesauelend zu Mute, und ich weiß gar nicht mehr weiter“.
Doch diese Larmoyanz, die nach dem Tode seines Mentors und Freundes Jacobsohn noch verständlich erscheint, klingt bereits in den Briefen des Jahres 1926 sehr stark an. Dabei schien Tucholsky mit dem Wechsel von Berlin nach Paris im Frühjahr 1924 endlich wieder durchatmen und sich „vom Vaterlande ausruhen“ zu können. Von dem Elan war 1925 noch einiges zu spüren. Tucholsky korrespondierte eifrig mit Jacobsohn über die Entwicklung einer Monatsschrift, mit dem in London wohnenden Ehepaar Neven-Dumont tauschte er sich häufiger über das Leben im Ausland aus und in mehreren Schreiben suchte er den Kontakt zur französischen Freimaurerlogen. Bezeichnend für sein Verhältnis zu Mary Gerold wohl das kurze Schreiben vom 3. Januar 1925: „Der Nase geht es fil besser – er ist guter Laune und kann das Mätzchen schön leiden –!“.
Davon konnte wohl spätestens seit der zweimonatigen Pyrenäenreise im Herbst 1925 nicht mehr die Rede sein. Als Faksimile findet sich eine Reisekarte in dem Briefband abgedruckt, auf der Tucholsky die Orte markiert hat, in denen seine Frau „beese“ und „sehr beese“ war. Es waren einige Dutzend. „Nie war ich unglücklicher, zerrissener, ungeklärter und mehr durcheinander, als damals, als ich das ›Pyrenäenbuch‹ schrieb“, erinnerte er sich 1931.
Die Unzufriedenheit mit seiner beruflichen Situation nahm dagegen im Sommer 1926 merklich zu. Schuld daran war vor allem die Revue für Max Pallenberg und Fritzi Massary, die Tucholsky zusammen mit Alfred Polgar erstellen sollte. Da Polgar wochenlang kein Material lieferte, war Tucholsky recht bald von dem Scheitern des Projektes überzeugt, bangte um seine 5000 Mark Honorar. Die beiden Schriftsteller entwickelten zusammen mit den Schauspielern im bayerischen Garmisch dann doch noch eine komplette Revue. Sie wurde nie aufgeführt. In einem Brief an Mary Gerold schrieb er aus Garmisch: „Es geht mit mir jetzt nicht mehr so weiter. Ich will jetzt auf neu.“
Zu diesem Neuanfang sollte auch eine andere Wohnung gehören, die Mary in Abwesenheit Tucholskys monatelang suchte und wozu sie in den Briefen dezidierte Anweisungen erhielt. Im Oktober 1926 zogen beide dann tatsächlich in das rund 60 Kilometer von Paris entfernte Fontainebleau, wo Tucholsky einen ehemaligen Kardinalssitz bezog, dessen Finanzierung ihm noch reichlich Sorgen bereiten sollte. Denn am 3. Dezember starb völlig unerwartet Siegfried Jacobsohn und Tucholsky musste sofort nach Berlin zurückkehren, um zumindest vorübergehend die Leitung der „Weltbühne“ zu übernehmen.
Dass es ihm in Berlin nicht besonders gefallen würde, war von Vornherein abzusehen gewesen. „Mir bekommt die Stadt nicht, alle meine schlechten Eigenschaften entfalten sich in ihr“, schrieb er Anfang Januar an Mary. Tucholsky lamentierte und haderte in den folgenden Monaten mit seinem Schicksal, wog ängstlich Vor- und Nachteile einer Leitung der „Weltbühne“ ab.
Wenn Du mir bloß einen Rat geben könntest –! Für Berlin: Sicherheit der Position. Stärke der Position – man gewährt und erbittet nichts, das äußert sich auch nach außen. Mögliche Erhaltung der Publikationsmöglichkeit. Gegen Berlin: Alles zerflattert einem unter den Fingern. Ungesammelt. Gefahr, daß die Produktion nachläßt, wegen nicht guter Laune und Mangel an Konzentration. Was soll ich tun?
fragte er Anfang Februar seine Frau. Weniger Selbstzweifel beschlichen ihn hingegen, wenn er auf seine Honorarforderungen zu sprechen kam. Insgesamt versuchte Tucholsky, auf monatliche Einnahmen von 2000 Reichsmark zu kommen, was ihm in diesen Jahren auch gelang. Zum Vergleich: ein Arbeiter verdiente 1927 durchschnittlich 2500 Mark im Jahr (M. Hepp). Wenig Rücksicht nahm er dabei auch auf die Situation von Jacobsohns Witwe Edith:
Es hat keinen Zweck, der Frau alles in den Rachen zu werfen und jeden Hundertmarkschein, den sie spart oder der einkommt, ihr zu lassen und sich vielleicht dann gnadenhalber einen schenken zu lassen. So geht es nicht, und so will ich es nicht. Ich werde sehr hart kämpfen.
Schon in den ersten Monaten des Jahres 1927 führte Tucholsky dabei eine Art Doppelleben. Ende Januar hatte er auf einem Ball die Berlinerin Lisa Matthias kennengelernt, die schnell zu seiner Geliebten wurde. Davon ist in den Briefen jedoch noch nichts zu merken. „Ich nehme mir fast gar nichts mehr vor“, schrieb er Anfang März an Mary Gerold, während Matthias zur selben Zeit in ihrem Tagebuch notierte: „Meine Liaison mit Tucholsky besteht noch und wird wohl noch weitere vier Wochen dauern. Es ist eine richtige Ehe geworden, allerdings ‚auf Abruf'“. Dieser „Abruf“ kam zunächst im Mai 1927, als Tucholsky die Leitung der „Weltbühne“ an Carl von Ossietzky übergab und nach Dänemark fuhr, wo er den Auswahlband Mit 5 PS für den Rowohlt-Verlag vorbereitete. Aus dieser Zeit stammt auch die Einschätzung, die Tucholsky zu seinem Verhältnis zu Jacobsohn abgab:
Ich fühle deutlich, daß mir der Mann nicht ersetzlich ist. Das hat nun gar nichts mit Überschätzung zu tun –: es ist das ein rein persönliches Verhältnis gewesen, das sehr stark an Vater und Kind erinnert, und ich glorificiere nicht nachträglich – ich merke nur mit jedem Tag, was allein seine Existenz für mich bedeutet hat. Welchen Wert und welche Bedeutung die objektiv für andere gehabt hat, ist eine andere Sache“
schrieb er im Juni an Maximilian Harden.
Während dieser Wochen wurde ihm außerdem klar, dass er lieber längerfristige schriftstellerische Projekte angehen wollte, als ständig für die verschiedenen Zeitungen zu „schmieren“ und mit seiner Schreibmaschine zu „klappern“.
Sonst ist hier tiefe Depression, während der aber gearbeitet wird. Ich glaube, es ist wirklich alles falsch. Wozu mache ich lauter Dinge, die ich gar nicht meeg? Ich sehe hier wieder, wenn man mich nur in Frieden läßt, daß es ganz gut geht. Es ist diesmal dichterisch nichts Besondres, weil mir das Buch zu viel Arbeit macht – aber so, alles. Wenn ich so daran denke, was für eine unendliche Zeit ich in Paris verwandt habe – wofür eigentlich? Für Dienst? Was soll das alles? Hat das irgend einen Sinn? Kommt man so auch nur um eine Spur weiter? Mit den Teppichleuten kann ich doch nicht konkurrieren – aber mit mir selber schon. Wenn man so ganz still leben könnte, damit man mal in Ruhe eine Sache durcharbeitet, sich wirklich mit der beschäftigt und nicht immerzu schmieren müßte
heißt es in einem Brief an Mary, die zu dieser Zeit selbst auf Reisen war. Und noch expliziter im Juli 1927:
Es ist Wahnsinn, was ich treibe. (…) Wenn ich nun noch die Berliner Post nicht hätte und nicht gezwungen wäre, immer und immerzu zu klappern – dann wächst es langsam. Es klingt ja nie etwas aus – so kann ja nichts zustande kommen. (…) Der Aufwand, den ich so treibe –: mit Leuten, mit Post, mit Betrieb – ist völlig wahnsinnig. Es ist genau umgekehrt, wie Graetz es sagt. Ich habe immer noch aus der stillen Ecke her die Dinge so gesehen, daß die Leute gesagt haben: woher wissen Sie es? Ich weiß es gar nicht. Ich denke es mir aus. Folgerung: Ich muß und ich will mich umstellen.
Diese Umstellung sollte Tucholsky jedoch nicht gelingen. Weder privat, indem er seine Ehe mit Mary retten konnte, noch beruflich, indem er vom Journalisten zum reinen Schriftsteller wurde. Abwechslung von den inneren Kämpfen boten Begegnungen mit seinen Kriegsfreunden Karlchen und Jakopp. Die berühmte Spessartwanderung gefiel Tucholsky offenbar außerordentlich. „Es ist sehr schön“, hieß es in fast jedem Schreiben nach Paris. In Würzburg sprach er sich außerdem mit Ossietzky aus und traf sich mit – Lisa Matthias.
Zwei Briefe an Matthias bilden gewissermaßen auch den Abschluss des Bandes. Darin gesteht er ihr sehr zunächst deutlich seine Zuneigung:
Gedenfalls war es Mamma und Freindin und Kamerad in einem, und ich habe, wenn ich auch ein paar Mal mehr, als nötig war, das Maul gehalten habe, eine mächtige Sehnsucht. Und ich habe viel weniger Talent zum Doppelleben, als Du denkst, weil ich Dich wirklich gern habe, und ich falle dann immer gleich schräg nach vorn – «ein gefühllos Herz, ist ein kostbar Gut – auf der wankenden Erde» – und ich kann das gar nicht. Und ich habe Dich mächtig lieb, und mir tut verschiedenes sehr leid.
Im nächsten Brief macht er aber klar, dass er seine Ehe mit Mary noch nicht komplett aufs Spiel setzen wollte:
Fahre ich nach Lugano, was immerhin möglich ist, so fürchte ich hier manches, es liegt zur Zeit das Schiff etwas schief, und da soll man nicht wackeln. Lottchen, ich weiß alles: daß Du mich nicht heiraten willst, und daß wir beide nur nett sind, wenn wir uns sporadisch sehen – mit klarerem Sinn ward nie ein Weib gefreit.
In diesem Brief findet sich auch das Eingeständnis Tucholskys, dass es Tage gibt, „wo ich nicht schreiben könnte, ohne zu lügen“. Warum Fritz J. Raddatz einer Briefauswahl den abgewandelten Titel „Ich kann nicht schreiben, ohne zu lügen“ gegeben hat, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben. So unschmeichelhaft muss man Tucholsky nun wirklich nicht darstellen.
Sollte es wirklich Zufall sein, dass João Pessoa in
einem Brief an João Gaspar Simões geschrieben hat:
„O estudo a meu respeito, que peca só por se basear,
como verdadeiros, em dados que são falsos por eu, artisticamente, não saber senão mentir“, was dem Titel deutlich näher kommen würde ?
[…] Tucholsky hat in seinem Leben etliche Texte zusammengeklappert oder geschmiert, wie er es bisweilen ausdrückte. Neben journalistischen Arbeiten gehörten dazu Erzählungen, Gedichte, Chansons, aber auch eine nie aufgeführte Revue, ein selten gespieltes Theaterstück ("Christoph Kolumbus") sowie ein unverfilmtes Drehbuch ("Seifenblasen"). Nicht überliefert ist dagegen, dass er sich einmal an einem Opernlibretto versuchte. Was auch daran gelegen haben mag, dass er nicht als besonderer Freund des klassischen Musiktheaters bekannt war: "Ich bin unmusikalisch. (…) Musik läßt mich aufhorchen; wenn ich sie höre, habe ich ein Bündel blödsinniger Assoziationen – und dann verliere ich mich im Gewirr der Töne, finde mich nicht mehr heraus … Und um rat- und hilflos zu sein, dazu brauche ich schließlich nicht erst in eine Oper zu gehen", bemerkte er einmal einem spöttischen Text über "Die Musikalischen". […]
[…] hat er das in der Einleitung zu Schloß Gripsholm selbst beschrieben. Besonders aus den Briefen von 1925 bis 1927 geht hervor, dass Mary sich häufig wie seine Sekretärin gefühlt haben […]