Die Welt blickt heute aus gegebenem Anlass auf die Geschichte juristsch verfolgter Gotteslästerung in Deutschland zurück. Autor Uwe Wittstock weist zu Beginn seines Textes darauf hin, dass die liberalen europäischen Traditionen längst nicht so tief verwurzelt seien, wie von vielen geglaubt werde. Seine Reihe von Beispielen, die diese These belegen sollen, führt von Heinrich Heine über Oskar Panizza bis George Grosz, auf dessen Fall sich Tucholsky in dem Text „Die Begründung“ bezog. Doch der Fall Grosz sei nicht der einzige derartige Fall in der Weimarer Republik gewesen:
Kurt Tucholsky mußte sich vor Gericht wegen eines angeblich gotteslästerlichen Gedichtes verantworten, Franz Masareel wegen der Holzschnittfolge „Die Kirche“, Kurt Weill wegen einer religionskritischen Oper. Carl Einstein wurde für „Die schlimme Botschaft“, eine Parodie auf die christliche Passionsgeschichte, trotz 14 Verteidigungs-Gutachten – darunter eines von Thomas Mann – mit seinem Verleger Ernst Rowohlt zu Geldstrafen oder mehrwöchiger Haft verurteilt.
Was Tucholsky betrifft, so bezieht sich Wittstock sich auf dessen Gedicht „Gesang der englischen Chorknaben“, das im August 1928 in der kommunistischen Arbeiter Illustrierte Zeitung erschien. Ein Ingolstädter Journalist stellte damals Strafantrag gegen Tucholsky sowie den Drucker wegen Gotteslästerung nach Paragraph 166 Strafgesetzbuch. Da Tucholsky zu diesem Zeitpunkt meist im Ausland lebte, wurde er erst im März 1929 in Berlin vernommen. Anschließend wurde das Verfahren eingestellt. Tucholsky hatte bei der Vernehmung erklärt, dass das Gedicht aus Anlass eines englischen Bergarbeiterstreiks enstanden sei und sich daher ausschließlich auf die anglikanische Kirche beziehe. Außerdem habe er auf die in England übliche Praxis anspielen wollen, die Glauben „wie eine Zahnpasta anzupreisen“.