Jetzt, wo alle Leute den Krieg liquidieren; wo die letzten Erinnerungen zu Büchern gerinnen; wo leise, ganz leise die Zeit herankommt, da aus den Helden von gestern die Invaliden von morgen werden … da möchte denn einer sein Gewissen erleichtern, die Höhensonne bringt es an den Tag, es muß heraus, er hat es getragen siebzehn Jahr, nicht länger trägt er es mehr – aber hören wir ihn selbst:
»Vierzehn Tage vor der Versetzung nach Obersekunda wankte ich herum und gab Mamachen zu, daß es schief gegangen sei. Sitzengeblieben … Schülerselbstmorde kamen damals gerade auf, aber ich trug sie noch nicht – und um diese Versetzung war es besonders schade: sollte sie doch das Einjährige bringen, die Berechtigung zum Königlich Einjährig-Freiwilligen-Dienst – und weil es mit den Verben auf mi endgültig nicht klappte und bei den Gleichungen mit drei Unbekannten ein kleiner Ausrutscher zu verzeichnen stand, winkten zwei Jahre Dienstzeit. (Ich wußte damals noch nicht, daß es vier werden sollten.) Mamachen war nicht beglückt, und ich bekam ein paar hinter die Ohren. (›In Ihrem Alter – Wie alt waren Sie damals? – Ich als Vater … Sie als Sohn … Erlauben Sie mal, gerade vom Standpunkt der pädagogischen Propädeutik … ich gehe von dem Standpunkt aus … meine Einstellung ist irgendwie … ‹ – also wer nu hier? Ihr oder ich? Ich:) bekam also ein paar hinter die Ohren. Das war am 14. März. Am 28. war Zensurenverteilung, aber der 28. sah mich nicht in der Aula, wo die Klassen rauschend aufstanden, um zu hören, wer versetzt worden sei … begossenen Gemütes zogen die Sitzengebliebenen, Verachteten, Ausgestoßenen, Nichtmehrdazugehörigen in ihre Klassenzimmer … Ich war nicht dabei. Ich lag zu Hause im Bett und spielte den eingebildeten Kranken, was ich so besorgte, daß ich wirklich krank wurde. Zwei Tage später kroch ich in die Bellevuestraße und holte mir vom Schulpedell mein Zeugnis.
Die Klippschule lag da, wo heute der Reichswirtschaftsrat seine Existenzberechtigung dadurch nachweist, daß er da ist – ich zottelte den langen Gang hinunter und traute mich gar nicht zu dem Kastellan hinein, der so eine Art Mittelding zwischen Feldwebel und Direktor war … Aber wider Erwarten freundlich gab er mir mein Zeugnis. Ich sah es an – und wollte es ihm zurückgeben. Das war nicht mein Zeugnis. Das war das Zeugnis eines, der versetzt worden war. Ich, ich war sitzen geblieben.
Da stand jedoch: Kaspar Hauser, und das war ich, und ich sah das Zeugnis an, und dann den Schuldiener (der wahrscheinlich heute Studienwachtmeister heißt), und dann ging ich ganz schnell wieder hinaus, aus Angst, sie könnten die Sache wieder rückgängig machen – und dann stelzte ich den langen Gang wieder herunter, froh, vergnügt, großer Mann … als ich auf der Bellevuestraße ankam, machte ich ein Gesicht wie: ›Natürlich – was ist denn dabei? Ich habe mir nur mein Einjähriges abgeholt … !‹ Da hatte ich es – das Einjährige.
Dann nahmen die Verben auf mi an Schwierigkeiten zu, die Trigonometrie auch, meine deutschen Aufsätze ließen mich erkennen, daß es nicht genügt, seine Muttersprache zu lieben – nein, man muß sie auch so schreiben, wie sich greise Schulamtskandidaten den deutschen Stil vorstellen. Ach! von Groll gegen meine Lehrer ist nichts zurückgeblieben, ich habe ihn zerlacht und sie vergessen, alle miteinander. Und als es gar zu schlimm mit den deutschen Aufsätzen wurde, da setzte eine dicke IV meinem Streben einen Riegel vor; ich blieb nun wirklich sitzen, und mit den Augen die hoffnungslos in die Ferne gerückte Unterprima musternd, ging ich von der Schule ab. Und arbeitete weiter, um das Abitur als Externer zu bestehen.
Heute, wo trotz der übertriebenen Angst der Schüler und des lächerlichen Respekts der Eltern vor der ›Bildung‹ so viel kleine Revolverschüsse langsam eine Reform des Unterrichts erzwingen, heute ist das ja alles anders. Aber damals wurde derjenige, der ein Abitur als Externer bauen wollte, wie ein Verbrecher behandelt; man kam sich vor, als stehe man als Entlastungszeuge vor einem Staatsanwalt … so etwa war die Atmosphäre. Ich arbeitete wie ein Neger.
›Kaspar‹, sagte mein Pauker eines Tages zu mir … also ›Pauker‹ ist ein Kosewort; ich verdanke dem Mann sehr, sehr viel; er war ein wunderherrlicher Einpauker, weil er den Betrieb nicht ernster nahm als unbedingt nötig, und wenn er dieses liest, dann wollen wir in Gedanken miteinander anstoßen, womit er will: mit einem sanften Burgunder oder einem scharfen schwedischen Schnap – auf alle Fälle: Prost! – ›Kaspar‹, sagte er zu mir, ›in einem halben Jahr steigt das Examen. Das ist eine Nervenfrage. Wer garantiert uns, daß Sie wirklich alles aufsagen, was ich Ihnen eingetrichtert habe? Das mit der Hyperbel und Joachim Friedrich und mit den Nebenflüssen der Tunguska, kurz das, was einen gebildeten Menschen ausmacht, lachen Sie nicht! Wer garantiert uns, daß Sie nicht schlapp machen und da auf einmal alles vergessen, was Sie hier so schön gewußt haben? Niemand garantiert uns das. Infolgedessen wollen wir eine Generalprobe machen!‹ – ›Wollen wir uns einen Schulrat engagieren, der mich zu Hause prüft?‹ schlug ich vor. ›Affe‹, sagte der Pauker. ›Sie gehen hin und machen als Probe das Einjährige.‹ – ›Ich habe das Einjährige‹, sagte ich. ›Da machen Sie es eben noch einmal!‹ sagte der Pauker. ›Wo?‹ sagte ich. ›Vor der Kommission in der Heidestraße‹, sagte der Pauker. Bei Gott, dies geschah.
Lieber Panter, Sie werden meinen wirklichen Namen nicht in die Tante Voß setzen, denn vielleicht findet sich ein schneidiger junger Herr bei der Staatsanwaltschaft, der, während gerade kein Gotteslästerungsprozeß steigt, sich mit dieser Sache eine gute Nummer verdienen will … ich legte also der Militärkommission am Lehrter Bahnhof meine Papiere vor, alle – mit Ausnahme des Einjährigen aus der Bellevuestraße. Das behielt ich zu Hause. Und ich wurde zum Examen zugelassen. Und ich ging in dieses Examen.
Neben mir saßen durchgefallene Fähnriche aus den Pressen, gebildete Arbeiter, die sich ihre geistige Arbeit von den Nachtstunden abgetrotzt hatten – vor uns saßen schneidige Offiziere und einige traurige Zivilisten, und so wurden wir geprüft. Es ging sehr scharf her, von den zwölf jungen Herren kamen nur zwei durch – der andere war ein gewisser Salter, der Mann ist später trotz des Einjährigen vor die Hunde gegangen. Der eine war ich. Dies war meine Generalprobe für das Abitur.
Und da sitze ich nun und habe also zwei Einjährige, und vielleicht hat deswegen der Krieg so lange gedauert, und ich mußte es einmal erzählen, denn außer dem braven Lehrer weiß den Schmuh keiner, und es hat mich bedrückt, und nie getraue ich mich zu einem Psychoanalytiker – denn dann käme es heraus, dies und noch vieles andere – und ich sitze da mit meinen beiden Einjährigen und möchte mal fragen, ob vielleicht keiner das andere haben will … ?«
Dies ist der Bericht des Mannes, der zwei Einjährige hat. Ergreift sein Sohn einmal die Laufbahn des mittleren Handwerkers, dann kann er dem ja das zweite mitgeben. Weil man doch ohne Examen nicht arbeiten darf, hierzulande.
Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 18.08.1929, Nr. 388.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 370 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 164 ff.
[…] Ganz auszuschließen ist der Nauener Schulbesuch auch deswegen nicht, weil die dortige Schule ebenso wie das zuletzt von Tucholsky besuchte Berliner Wilhelms-Gymnasium ein Realgymnasium war. Falls die Begebenheit zutrifft, wäre Tucholsky nicht nur der "Mann mit den zwei Einjährigen", sondern auch das Kind mit den drei Oberschulen gewesen. Denn vor dem Wilhelms-Gymnasium hatte er bereits erfolglos das Französische Gymnasium besucht. […]
[…] Der Mann mit den zwei Einjährigen […]