Nach den vielen positiven Würdigungen zu Tucholskys 70. Todestag ist fast schon wieder beruhigend, einmal eine eher kritische Auseinandersetzung mit der linken Publizistik der Weimarer Republik zu finden. Problematisch wird eine solche Kritik jedoch dann, wenn sie dazu herhalten muss, aktuelle politische Auseinandersetzungen um unfundierte Argumente zu bereichern. Dann kann es leicht vorkommen, so wie es Marko Martin vom „Rheinischen Merkur“ passiert ist, dass Ursache und Wirkung, Absicht und Folgen durcheinander geraten.
In seinem Kommentar „Böse Mär vom Schnüffelstaat“ setzt sich Martin engagiert dafür ein, dass die deutschen Behörden die politische Gesinnung von Immigranten überprüfen dürfen, – so wie das Land Baden-Württemberg dies mit einem Gesinnungstest plant. Martin sieht sich bemüßigt, die wegen des Vorschlags angegriffenen Politiker und Beamte in Schutz zu nehmen. Um seine These zu stützen, greift er tief in die rhetorische Trickkiste. Denn, wie wir spätestens seit Hans-Ulrich Wehler wissen, ist die Weimarer Republik auch an der Kritik eines Carl von Ossietzky zugrunde gegangen. So schreibt Martin zur früheren Debatte um den Radikalenerlass:
Stattdessen gab es bis weit hinein in den linksliberalen Mainstream jenen wohlfeilen Spott über den so genannten „FDGO-Staat“ – ähnlich wie ein nie kritisch hinterfragter Kurt Tucholsky Jahrzehnte zuvor in der „Weltbühne“ die fragile Weimarer Republik und deren „Systemparteien“ mit Hohn nur so übergoss, bis…
Nun, bis es zu spät war und jene teilweise vielleicht tatsächlich inkompetenten Politiker durch wahre Massenmörder abgelöst worden waren, bis sich der vermeintlich „kleine Unterschied“ plötzlich als riesige Zivilisationskluft entpuppte – und all die einst so wortmächtigen Sophisten mit offenem Mund dastanden.
Wer so wenig historische Kenntnisse besitzt, sollte mit seinen Urteilen vorsichtiger umgehen. Schließlich hat Tucholsky die „Systemparteien“ der Weimarer Republik genau deswegen angegriffen, weil sie den republikfeindlichen Kräften in Militär, Justiz und Verwaltung keinen Einhalt geboten haben. Wenn sich Personen erwiesenermaßen als Gegner von Demokratie und Republik bekannten, war Tucholsky wohl der letzte, der dies klaglos hingenommen hat. Nicht ohne Grund beteiligte sich Tucholsky an der Gründung eines Schutzbundes für die Republik (Deutscher Republikanischer Reichsbund) und erklärte: „Wir alle, ohne Unterschied der Parteifärbung, stehen [der Republik] zur Verfügung. Warum ruft sie uns nicht?“ (siehe entsprechende Wikipedia-Diskussion). Wenn Martin wirklich die freiheitlich demokratische Grundordnung verteidigen wollte, täte er sich leichter, Tucholsky zum Fürsprecher in eigener Sache zu machen.
Was dieser aber von der Idee hielt, die staatsbürgerliche Gesinnung mit einem einfachen Fragebogen zu ermitteln, wird aus der folgenden Bemerkung sehr schön deutlich:
Amerika ist bei uns viel zu hoch im Kurs notiert; warum kriechen wir eigentlich vor diesen Brüdern? Kennt ihr den unverschämten Fragebogen, den die amerikanischen Konsulate den Auswanderern und Reisenden vorlegen? Laßt euch so einen geben – ihr werdet eure Freude haben.
Peter Panter: „Auf dem Nachttisch“, in: Die Weltbühne, 15.10.1929, S. 593f.