Die „taz“ hatte in ihrem Tucholsky-Beitrag vom 2. Januar etwas kryptisch darauf hingewiesen, dass sämtliche Texte von Tucholsky nun gemeinfrei seien, mit Ausnahme der „noch einmal nachträglich etwa von einem Herausgeber bearbeiteten Fassungen“. Es wäre schön, wenn sich jemand daran halten würde.
Denn erstaunlicherweise ist das am meisten im Internet verbreitete Tucholsky-Gedicht ausgerechnet ein solches, das nachträglich von einem „Herausgeber“ bearbeitet wurde. Es heißt „Die freie Wirtschaft“ und wurde, von wem auch immer, aus den Originalgedichten „Die freie Wirtschaft“ und „Eine Frage“ zusammengeschnippelt. In seiner jetzigen Form, die sich auf hunderten von Internetseiten findet, wirkt es trotz seiner 75 Jahre hochaktuell.
Die freie Wirtschaft
Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf Euren Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.Ihr sollt alles weiter dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein.
Wir wollen freie Wirtschafter sein!Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.Ihr braucht keine Heime für Eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr sollt Euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!Ihr sollt nicht mehr zusammenstehen –
Wollt Ihr wohl aus einander gehen!Ihr sagt: Die Wirtschaft müsse bestehen.
Eine schöne Wirtschaft! Für wen? Für wen?Das laufende Band, das sich weiterschiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug sacht
Eure eigene Kundschaft kaputtgemacht.
Denn Deutschland besteht –
Millionäre sind selten –
aus Arbeitern und Angestellten!Und Eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.
Während Millionen stempeln gehen.
Die wissen, für wen!
Aber es unterdrückt auch Verse wie:
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
die einigen Montagsdemonstranten sicherlich nicht gefallen dürften.
Der Vollständigkeit halber seien hier beide Originalgedichte wiedergegeben. Da sie nun gemeinfrei sind, werden sie hoffentlich anstelle der Hartz-IV-Kompilation weiterverbreitet.
Die freie Wirtschaft
Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier …
Ihr nicht.
Aber wir.Was ihr macht, ist Marxismus. Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden …
Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
Komme, was da kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
„Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir.“
Theobald Tiger: „Die freie Wirtschaft“, in: Die Weltbühne, 4.3.1930, S. 351
Der zweite Teile stammt aus dem folgenden Gedicht:
Eine Frage
Da stehn die Werkmeister – Mann für Mann.
Der Direktor spricht und sieht sie an:
„Was heißt hier Gewerkschaft! Was heißt hier Beschwerden!
Es muß viel mehr gearbeitet werden!
Produktionssteigerung! Daß die Räder sich drehn!“
Eine einzige kleine Frage:
Für wen?Ihr sagt: die Maschinen müssen laufen.
Wer soll sich eure Waren denn kaufen?
Eure Angestellten? Denen habt ihr bis jetzt
das Gehalt, wo ihr konntet, heruntergesetzt.
Und die Waren sind im Süden und Norden
deshalb auch nicht billiger geworden.
Und immer noch sollen die Räder sich drehn …
Für wen?Für wen die Plakate und die Reklamen?
Für wen die Autos und Bilderrahmen?
Für wen die Krawatten? die gläsernen Schalen?
Eure Arbeiter können das nicht bezahlen.
Etwa die der andern? Für solche Fälle
habt ihr doch eure Trusts und Kartelle!
Ihr sagt: die Wirtschaft müsse bestehn.
Eine schöne Wirtschaft!
Für wen? Für wen?Das laufende Band, das sich weiterschiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug
sacht eure eigne Kundschaft kaputt gemacht.
Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten –
aus Arbeitern und aus Angestellten!
Und eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.Während Millionen stempeln gehn.
Die wissen, für wen.
Theobald Tiger: „Eine Frage“, in: Die Weltbühne, 27.1.1931, S. 123
[…] wie ein Blick auf Google und die Suchergebnisse zeigt, keine wirklich neue Kombination. Dabei Buchtitel (Kabe, Henry: Ullstein, 1968), Gedichte z. B. von Kästner, ein Song von Dendemann, mit dabei auch ein Gedicht von Kurt Tucholsky “Die Freie Wirtschaft” …Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten – aus Arbeitern und aus Angestellten! Und eure Bilanz zeigt mit einem Male einen Saldo mortale. […]
[…] Die freie Wirtschaft Geschrieben von gewerkschafter in Kultur um 03:04 Angesichts mancher Themen komme ich manchmal ins Grübeln. Dann wird’s mal wieder Zeit für’n bischen Kultur! Die freie Wirtschaft Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen. Ihr sollt auf Euren Direktor vertrauen. Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen. Ihr sollt alles weiter dem Chef überlassen. Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein. Wir wollen freie Wirtschafter sein! Wir diktieren die Preise und die Verträge – kein Schutzgesetz sei uns im Wege. Ihr braucht keine Heime für Eure Lungen, keine Renten und keine Versicherungen. Ihr sollt Euch allesamt was schämen, von dem armen Staat noch Geld zu nehmen! Ihr sollt nicht mehr zusammenstehen – Wollt Ihr wohl aus einander gehen! Ihr sagt: Die Wirtschaft müsse bestehen. Eine schöne Wirtschaft! Für wen? Für wen? Das laufende Band, das sich weiterschiebt, liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt. Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug sacht Eure eigene Kundschaft kaputtgemacht. Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten – aus Arbeitern und Angestellten! Und Eure Bilanz zeigt mit einem Male einen Saldo mortale. Während Millionen stempeln gehen. Die wissen, für wen! Kurt Tucholsky via sudelblog – das Blog zu Kurt Tucholksy und vielen anderen Seiten. Gefunden haben wir das auch über eine Seite, die unter dem Titel „Union Busting und Kampf gegen Betriebsräte“ die Frage beleuchtet, wie das mit der Hetze gegen gewerkschaftlich demokratische Rechte hier & heute eigentlich so abläuft. Auf jeden Fall lesenswert und wichtig! Kommentare (0) | Trackbacks (0) Tags für diesen Artikel: betriebsräte, kapitalismus, kurt tucholsky, union busting 67 Klicks Trackbacks Trackback für spezifische URI dieses Eintrags Keine Trackbacks Kommentare Ansicht der Kommentare: (Linear | Verschachtelt) Noch keine Kommentare Kommentar schreiben // this ensures coComment gets the correct values coco = { tool : „Serendipity“, siteurl : „http://www.trueten.de/“, sitetitle : „trueten.de – Willkommen in unserem Blog!“, pageurl : „http://www.trueten.de/archives/3933-Die-freie-Wirtschaft.html“, pagetitle : „Die freie Wirtschaft“, author : „“, authorID : „serendipity[name]“, formID : „serendipity_comment“, textareaID : „serendipity[comment]“, buttonID : „serendipity[submit]“ } // this activates coComment […]
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Ein klasse Artikel, Danke dafür. Ich habe ihn auf
FB geteilt und etliche Likes bekommen :).
Das Thema Energie ist stets wichtig und wird es auch in den nächsten Jahren sein. Verkehr, Wärme sowie elektrischer Strom sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken.
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