Emotional ansprechende Zwanziger

Wie unterschiedlich zwei Rezensionen ein und desselben Produktes ausfallen können, zeigt ein Vergleich zwischen Berliner „Tagesspiegel“ und „Berliner Zeitung“, die sich beide ein neue Art von Hörbuch angeschaut haben. Die Firma Ear Books vertreibt Bildbände mit beigefügten CDs, laut Eigenwerbung ein „physisch erlebbares Produkt, das emotional anspricht. Zum attraktiven Preis“. Das neueste Werk aus diesem Hause heißt „Cabaret Berlin“ und widmet sich den Goldenden Zwanzigern in der damaligen Reichshauptstadt.

Der „Tagesspiegel“ geht vergleichsweise gutwillig mit dem Konzept um:

Die Texte der gesammelten Lieder sind so anspielungsreich wie die Tänzerinnenposen auf den Fotos und sprechen vom trotzigen Selbstbewusstsein einer Stadt, die Krieg und Not erlebt hat und deren Zukunft ungewiss ist, sodass man sich wenigstens am Abend lustvoll dem Hier und Jetzt hingibt. Da die Begleittexte leider sehr knapp sind, bleibt die Zeitreise jedoch an der Oberfläche. Was man dafür anschaulich vorgeführt bekommt, ist „die schönste Fassade einer turbulenten und tragischen Zeit“, wie Jörn Müller in der Einführung schreibt.

Carmen Böker von der „Berliner Zeitung“ lässt jedoch kein gutes Haar an der ganzen Verlagsidee:

Die „Generation Überraschungsei“ fordert selbst Verlegern einiges ab. Menschen, die in ihrer Jugend nicht schlicht mit Schokoriegeln abgespeist wurden, sondern mit einem Produkt, das auf einen Schlag „was Spannendes, was zum Spielen und was zum Naschen“ bietet – die wollen auch Bücher nicht bloß lesen. (…) Der Band „Cabaret Berlin“ sucht ebenfalls lieber Marlene Dietrich in den Kulissen des „Blauen Engels“ und die nonchalant barbusigen „Palmenmädchen“ in der Ausstattungsrevue „Die Sünden der Welt“ auf als Dada-Manifeste und Revolutionsbegehren zu behandeln. Die Fotografien von Kinopalästen und U-Bahn-Kathedralen, von schwanengleichen Damen und geschniegelten Herren sind nett anzusehen – aber es fehlen die klugen, dreisten, politischen Texte jener Zeit, die von Autoren wie Tucholsky, Brecht, Klabund, Marcellus Schiffer oder Ringelnatz für das Kabarett verfasst wurden.

Einen sprachhistorischen Lapsus erlaubt sich allerdings der „Tagesspiegel“, indem er etwas unbedarft von den Zwanzigern als einer Zeit spricht, „als Schlager noch Gassenhauer hießen“. Das kann wohl nicht recht stimmen, schrieb Tucholsky doch 1922 schon über „alte Schlager“:

Schlager sind Lieder, bestehend aus Musik und Worten, die kaum noch etwas mit ihren Autoren zu tun haben, sondern die aus der Literatur zum Gebrauchsgegenstand des Volkes oder des jeweiligen Volkskreises avanciert oder degradiert sind. Solche Lieder zum sonntäglichen Gebrauch des deutschen Bürgertums aus den Jahren 1740 bis 1840 hat Gustav Wustmann, der Schöpfer des ausgezeichneten Werkes ‚Allerhand Sprachdummheiten‘ veranstaltet, und ihre Neuausgabe liegt jetzt vor.
Peter Panter: „Alte Schlager“, in: Die Weltbühne, 1.6.1922, S. 554