„Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.“ Dieses angebliche Tucholsky-Zitat hat vor allem vor Bundestagswahlen in Deutschland Hochkonjunktur und ist nach Ansicht der taz „der größte Quatsch seit der Erfindung des politischen Witzes“.
Das hat die bayerische AfD-Landtagsabgeordnete Anne Cyron nach Angaben des Bayerischen Rundfunks nicht daran gehindert, in einem parteiinternen Telegram-Chat folgenden Text zu posten:
Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten – hat Tucholsky auch schon gewusst. Denke, dass wir ohne Bürgerkrieg aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen werden.
Der BR schreibt einschränkend:
„Immer wieder wird dieses Zitat Kurt Tucholsky zugeschrieben. Ob es von ihm stammt ist unklar.“
Das ist nicht nur „unklar“, sondern sehr unwahrscheinlich. Denn in seinem digital vorliegenden Werk findet es sich nicht. Außerdem musste Tucholsky in der Weimarer Republik am eigenen Leib erfahren, dass Wahlen sehr wohl etwas ändern können. Denn schließlich sind die Nationalsozialisten, die ihn 1933 ausgebürgert haben, mit Hilfe demokratischer Wahlen an die Macht gekommen.
So schrieb schon am 16. Juli 1929 der Journalist Heinz Pol in der „Weltbühne“:
Bis auf weiteres bleiben parlamentarische Erfolge auch der antidemokratischsten Parteien der sichtbarste Beweis für das Anwachsen einer Bewegung. Die Nationalsozialisten, denen doch das parlamentarische System so verhaßt ist und die so emphatisch jede Mehrheit für Unsinn erklären, wissen augenblicklich des Jubelns kein Ende über ihre gewiß imponierenden Wahlerfolge in Mecklenburg, in Sachsen, in Koburg und auf den Universitäten.
Eine AfD-Politikerin daran erinnern zu müssen, dass Wahlen sehr wohl etwas ändern können, ist schon ein Treppenwitz der Geschichte. Dass ausgerechnet Tucholsky dazu herhalten muss, einen gewaltsamen Sturz des demokratischen Systems zu begründen, ist eine literarische Leichenschändung.