Relotius, Moreno und das „weltbekannte Faktenluder“

Es ist nicht unbedingt jedem Buch zu wünschen, dass die erste Auflage schnell ausverkauft ist, damit die zweite umgehend nachgedruckt werden kann. Bei Juan Morenos Buch „Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ (Rowohlt, 18,- Euro) trifft das jedoch zu. Der Wunsch rührt nicht nur daher, dass das aufschlussreiche Aufarbeitung des Relotius-Skandals beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel von vielen Menschen gelesen werden sollte.

Hinzu kommt noch die Möglichkeit, dass mit einer zweiten Auflage Fehler getilgt werden. Beispielsweise ein falsches Tucholsky-Zitat, das sich auf Seite 100 eingeschlichen hat. „Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders“ wird dort dem Kapitel 5 vorausgestellt.

Aber moment mal: Ist der Aphorismus nicht eines der bekanntesten Tucholsky-Zitate? Veröffentlicht im August 1925 in der ersten „Schnipsel“-Sammlung? Dort heißt es:

Dies ist, glaube ich, die Fundamentalregel alles Seins: „Das Leben ist gar nicht so. Es ist ganz anders.“

Das ist zweifellos ein Zitat von Tucholsky. Was auch bei Moreno nicht anders ist. Allerdings stammt es bei ihm nicht von Kurt, wie man es erwarten würde, sondern von dessen zweiter Frau Mary. Wie kann das sein?

Von Mary Gerold-Tucholsky ist vor allem bekannt, dass sie Zeit ihres Lebens darauf bedacht war, mit ihrer eigenen Person im Hintergrund zu bleiben und nach dem Zweiten Weltkrieg das literarische Erbe ihres 1935 im schwedischen Exil gestorbenen Mannes zu sammeln und zu verbreiten. Erst kurz vor seinem eigenen Tod hat sich Tucholsky-Herausgeber Fritz J. Raddatz getraut, umfangreiche Passagen aus Marys Briefen zu veröffentlichen. Sollte Moreno etwa dort das Zitat entdeckt und übernommen haben? Und damit gleichzeitig belegen, dass Kurt Tucholsky gar nicht der eigentliche Urheber ist?

Da sich das Zitat nicht in „Tucholsky – Eine biografische Momentaufnahme“ findet, hilft nur eine direkte Nachfrage bei Moreno selbst. Dieser verweist in seiner Antwort tatsächlich auf Raddatz. Allerdings nicht auf das Tucholsky-Büchlein, sondern auf dessen 2003 erschienene Autobiografie „Unruhestifter“. Dort habe Raddatz das Zitat Mary zugeschrieben.

Nun ist bei Raddatz bekanntlich Vorsicht angesagt. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel bezeichnete ihn nicht ganz unbegründet als „das weltbekannte Faktenluder“. Im „Unruhestifter“ findet sich auf Seite 233 tatsächlich die entsprechende Passage. Darin schreibt Raddatz:

Mary Tucholskys betrügerisch sie liebender Mann hat geschrieben – ein mir von ihr in vielen Widmungen zitierter Satz: „Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders.“

Auch wenn nicht ganz klar ist, was der zweite Teil des Satzes genau meint, aus dem ersten geht eindeutig hervor, dass Kurt der Urheber des Satzes ist.

Ein solches Missverständnis kann jedem einmal passieren. In einem Buch, in dem es vor allem darum geht, warum beim Spiegel die Faktenkontrolle versagte und der Reporter Claas Relotius eine Märchengeschichte nach der anderen fabrizieren konnte, ist ein solcher Lapsus aber besonders ärgerlich. Einmal kurz gegoogelt, und Moreno hätte herausgefunden, dass Kurt Tucholsky der Urheber ist und Raddatz obendrein die Interpunktion des Originals verändert hat. Dass Morenos Buch in Tucholskys Hausverlag Rowohlt erschienen ist, macht die Sache nicht besser.

Und leider passt es auch zu den Vorwürfen, die Relotius selbst gegen Moreno erhoben hat. So behauptet Moreno am Ende des Buches, dass Relotius von einer Spiegel-Sekretärin in Hamburg auf dem Fahrrad gesehen worden sei, obwohl er einem Ex-Kollegen versichert habe, sich in Süddeutschland in einer Klinik aufzuhalten. Das will Moreno von dem Kollegen erfahren haben. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier schreibt dazu:

Darf man eine solche Anekdote, vor allem eine so mächtige und prominent platzierte, allein auf der Grundlage von Hörensagen veröffentlichen, ohne wenigstens selbst mit der Sekretärin gesprochen zu haben?

Für Niggemeier „ist es besonders ärgerlich, dass sich Moreno so angreifbar gemacht hat“.

Dabei beschreibt Moreno in langen Passagen des Buches, welchen Rechercheaufwand er betreiben musste, um das Lügengebäude von Relotius zum Einsturz zu bringen. So suchte er im Netz stundenlang nach einer Person, die auf einem Foto in dem Artikel abgebildet war, den er zusammen mit Relotius geschrieben hatte (warum er die umgekehrte Bildersuche nicht nutzte, bleibt unklar).

Da die vielen E-Mails mit Indizien den verantwortlichen Spiegel-Redakteuren Matthias Geyer und Ullrich Fichtner nicht ausreichten, fuhr Moreno sogar auf eigene Faust nach Arizona, um die vermeintlichen Gesprächspartner Relotius‘ aufzuspüren. „Wenn meine Chefs tatsächlich diese E-Mails nicht verstanden haben, frage ich mich, wie sie es an die Spitze des deutschen Journalismus geschafft haben“, kritisiert Moreno. Allerdings schreckte Relotius selbst vor dem Fälschen von E-Mails und Facebook-Seiten nicht zurück, um seine Chefs von seiner Version der Geschichte zu überzeugen. Moreno gab aber nicht auf und lieferte die entscheidenden Hinweise.

Das alles liest sich nicht besonders schmeichelhaft für den Spiegel und die ganze Reporterzunft, die sich gerne mit namhaften Journalistenpreisen schmückt. Moreno kritisiert deutlich die Privilegien der „Starreporter“ beim Spiegel, die eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft etablierten.

So eine Konstruktion ist eine grandiose Rezeptur für ein katastrophales Betriebsklima, da sich Edel-Reporter oft die besten Themen schnappen. Fachredakteure haben möglicherweise über Jahre Expertise aufgebaut, der Reporter trifft sich mit einigen Gesprächspartnern, schreibt fünf, sechs knackige Seiten und lässt nicht selten einen Haufen verbrannter Erde zurück.

Moreno verteidigt dennoch die Reportage gegen Fundamentalkritik anderer Journalisten. Was legitim ist.

Nicht behandelt wird bei Moreno aber die Frage, ob es sinnvoll ist, für Reportageressorts wie im Spiegel große Summen bereitzustellen, während die Politikberichterstattung gekürzt wird. Oder was es bringt, schönschreibende Starreporter in Krisenregionen einzufliegen, während die Zahl der dauerhaften Auslandskorrespondenten immer geringer wird. Da Moreno selbst „nur“ freier Journalist und kein angestellter Redakteur ist, fehlt ihm die Innenperspektive, um die Situation nicht nur vom Hörensagen zu schildern. Anders bei den früheren Spiegel-Redakteure Horand Knaup und Hartmut Palmer, die im Mai 2019 in der taz ausführlich beschrieben haben, welche systemischen Ursachen hinter dem Relotius-Skandal stecken.

Bleibt zu hoffen, dass bei Rowohlt die Fehlerkultur besser als beim Spiegel ist und das falsche Tucholsky-Zitat in Folgeauflagen oder unmittelbar beim E-Book verschwinden. Sonst muss der gar nicht böse Tucholsky-Bot demnächst nicht nur angebliche Zitate von Kurt, sondern auch solche von Mary korrigieren.

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