2.6.2024

Zum 100. Todestag: „Kafka. Ganz großer Mann. Ich habe ihn noch gekannt“

Zu den Verdiensten, die sich Tucholsky auf literarischem Gebiet zurechnen kann, gehören die frühe „Entdeckung“ und anhaltende Wertschätzung Franz Kafkas. Schon Anfang 1913, nur kurz nach dem Erscheinen im Rowohlt-Verlag, besprach er Kafkas Erstlingswerk „Betrachtung“. Darin verglich er dessen „singende Prosa“ mit derjenigen Robert Walsers und schreib:

Wenn sich über die Berechtigung solcher Literaten streiten läßt, so bestimmt das nicht über das große Können Kafkas (…) Hier scheint mir der Weg zu liegen, der zum Parnaß führt: so etwas ist tief und mit den feinfühligsten Fingern gemacht.

Die Besprechung „Drei neue Bücher. Max Brod, Franz Kafka, Ernst Blaß“ im Prager Tagblatt vom 27. Januar 1913 war kein Zufall. Tucholsky verehrte Kafkas Freund und Förderer Max Brod schon länger und hatte ihm zusammen mit seinem Freund Kurt Szafranski im September 1911 einen Besuch in Prag abgestattet. Damals lernte Tucholsky den blinden Dichter Oskar Baum und den literarisch noch ziemlich unbekannten Kafka kennen. Zurück in Berlin, schrieb Tucholsky in einem Brief an Brod:

Ich bitte Sie, mich Herrn Dr. Kaffka und Herrn Baum zu empfehlen.

Auf Kafka schien der Besuch der jungen Berliner Freunde ebenfalls Eindruck hinterlassen zu haben. In seinem Tagebuch notierter er am 30. September 1911:

Tucholsky und Szafranski. Das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von „nich“ gebildet werden. Der erste ein ganz einheitlicher Mensch von einundzwanzig Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung: seine helle Stimme, die nach dem männlichen Klang der ersten durchredeten halben Stunde angeblich mädchenhaft wird – Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzliche, wie er es an ältern Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon. Er wird bald heiraten.

Szafranski, Schüler Bernhards, macht während des Zeichnens und Beobachtens Grimassen, die mit dem Gezeichneten in Verbindung stehn. Erinnert mich daran, daß ich für meinen Teil eine starke Verwandlungsfähigkeit habe, die niemand bemerkt. Wie oft mußte ich Max nachmachen. Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholsky verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte, daß es drin steckt. Bei diesen Verwandlungen möchte ich besonders gern an ein Sichtrüben der eigenen Augen glauben.

Zu einer weiteren Begegnung zwischen Tucholsky und Kafka ist es offenbar noch einmal in Berlin gekommen. Das geht aus einem Brief Tucholskys an Marierose Fuchs aus dem Oktober 1930 hervor:

Kafka. Ganz großer Mann. Ich habe ihn noch gekannt – aus Berlin und Prag. Willy Haas hat schön über ihn geschrieben. Ein großer Dichter.

Vermutlich traf sich die beiden vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als Kafka seine damalige Freundin Felice Bauer dort besuchte. Mehr Details sind dazu jedoch nicht bekannt.

Nach dem Krieg lobte Tucholsky in der Weltbühne Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ überschwänglich.

Dieses schmale Buch, ein wundervoller Drugulin-Druck, ist eine Meisterleistung.

Seit dem Michael Kohlhaas ist keine deutsche Novelle geschrieben worden, die mit so bewußter Kraft jede innere Anteilnahme anscheinend unterdrückt, und die doch so durchblutet ist von ihrem Autor.

(…) dieses Kunstwerk ist so groß, daß es keiner Entschuldigung bedarf, und eine Allegorie ist erst recht nicht vonnöten. Es ist ganz etwas andres.

Ihr müßt nicht fragen, was das soll. Das soll garnichts. Das bedeutet garnichts. Vielleicht gehört das Buch auch garnicht in diese Zeit, und es bringt uns sicherlich nicht weiter. Es hat keine Probleme und weiß von keinen Zweifeln und Fragen. Es ist ganz unbedenklich. Unbedenklich wie Kleist.

Peter Panter, Die Weltbühne, 3. Juni 1920

Im darauf folgenden Jahr besuchte Tucholsky eine Lesung des Vortragskünstlers Ludwig Hardt, die er zu einer weiteren Eloge nutzte:

Franz Kafka. Wer das ist, wissen leider noch viel zu Wenige – ich habe einmal über seine „Strafkolonie“ referiert und will es nächstens über den ganzen Mann tun. Er ist ein Großsohn von Kleist – aber doch ganz selbständig. Er schreibt die klarste und schönste Prosa, die zur Zeit in deutscher Sprache geschaffen wird. Er blüht von Phantastischem und Phantasie – aber fest und sachlich sind Sätze und Rhythmus gestaltet. Nichts von der konventionellen Weichheit Prags, in welcher Stadt er wohnt – nichts von Modeströmung. Das ist auf einer andern Welt gewachsen.

Peter Panter, Die Weltbühne, 1. Dezember 1921

Zu dem Referat „über den ganzen Mann“ kam es jedoch nicht mehr.

Am 14. Juni 1924 schrieb Tucholsky aus Paris an seine Frau Mary Gerold:

Franz Kafka ist gestorben, von dem „In der Strafkolonie“ ist. Ludwig Hardt hat ihm einen schönen Nachruf geschrieben

Wenige Tage später erläuterte er in einem weiteren Brief an seine Frau:

Kafka ist mit 41 Jahren gestorben, an Lungenschwindsucht. Er wußte das seit Jahren. Ich kannte ihn – vor dem Kriege – als einen langen, magern, braunen Menschen, dunkel, sehr schweigsam, sehr schüchtern und zurückhaltend. Im Gegensatz zu Max Brod, der mir nicht recht gefiel und mir in Prag und Berlin eine große Enttäuschung war, liebte ich Kafka – ohne eine Zeile von ihm zu kennen. Er wollte nie etwas veröffentlichen – Brod mußte ihm alles einzeln aus der Schublade ziehen. Es heißt, er habe einen großen Roman vernichtet. Ich sehe in seinen Sachen das beste klassische Deutsch unserer Zeit. – Er war Schreiber bei einer Versicherungsgesellschaft.

Bekanntlich ging Kafkas literarische Karriere nach seinem Tod erst richtig los. Denn Brod veröffentlichte postum mehrere Werke, die er eigentlich vernichten sollte. So konnte Tucholsky im Herbst 1925 den „Prozeß“ in den Händen halten und schrieb im November 1925 an Brod:

Mit der größten Erschütterung habe ich den Prozeß von Franz Kafka gelesen. Ein Brief reicht nicht aus, um zu sagen, was ich empfunden habe.

An den Kunsthändler Eduard Plietzsch schrieb Tucholsky wenige Tage später:

Kafka, Der Prozeß, scheint mir eine ganz dicke Sache zu sein. Mir ist es immerzu den Rücken herauf- und wieder runtergelaufen. Lesen Sie das mal, bitte.

Die Rezension in der Weltbühne folgte erst drei Monate später. Gleich am Anfang verlieh Tucholsky seiner Ratlosigkeit Ausdruck:

Wenn ich das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre: Franz Kafkas „Prozeß“ (im Verlag Die Schmiede zu Berlin) aus der Hand lege, so kann ich mir nur schwer über die Ursachen meiner Erschütterung Rechenschaft ablegen. Wer spricht? Was ist das?

Peter Panter, Die Weltbühne, 9. März 1926

Schon unmittelbar nach der Lektüre hatte Tucholsky bei Brod um Interpretationshilfe gebeten.

Können und wollen Sie mir das schicken, was Sie etwa an anderer Stelle über das Buch geschrieben haben? Wenn es dergleichen nicht gibt: wollen Sie mir Ihre Ansicht – kurz, denn Sie werden andres zu tun haben – über Deutung, Anlage, Symbol des Werkes schreiben? Sie täten mir damit einen großen Gefallen.

In der Rezension selbst stellte er klar:

Mit Kafka selbst konnte man natürlich nie über Deutungen sprechen, auch bei der größten Intimität nicht. Er selbst deutete so, daß die Deutungen neuer Deutungen bedürftig wären. So wie ja auch sein Prozeß nie recht entschieden werden kann.

Dieser Prozeß ist selbstverständlich, wie auch aus Brods Darlegungen im Nachwort hervorgeht, niemals eine Allegorie gewesen. Er ist sofort als Symbol konzipiert, tatsächlich hat sich das Symbol selbständig gemacht, es lebt sein eignes Leben.

In der Besprechung des Romans hat Tucholsky den Kafka-Kult der vergangenen 100 Jahre bereits vorweggenommen.

Franz Kafka wird in den Jahren, die nun seinem Tode folgen, wachsen. Man braucht Niemand zu ihm zu überreden: er zwingt. Wände beleben sich, die Schränke und Kommoden fangen an zu flüstern, die Menschen erstarren, Gruppen lösen sich auf und bleiben wieder wie angebleit stehen, nur der Wille zittert noch leise in ihnen. Man sagt von Tamerlan, er habe einmal seine Gefangenen mit Mörtel zu einer Mauer zusammenmauern lassen, zu einer brüllenden Mauer, die langsam verzuckte. So etwas ist es. Ein Gott formt eine Welt um, setzt sie neu zusammen, ein Herz steht am Himmel und scheint nicht, sondern klopft; ein Fetisch wandelt, eine Apparatur wird lebendig, nur, weil sie da ist, die Frage Warum? ist so töricht, beinah so töricht wie in der realen Welt.

Deren Teile sind da – aber sie sind so gesehen, wie der Patient kurz vor der Operation die Instrumente des Arztes sieht: ganz scharf, überdeutlich, durchaus materiell – aber hinter den blitzenden Stücken ist noch etwas Andres, die Angst brüllt der Materie in alle Poren, erbarmungslos steht das Operationsbett, hab doch Mitleid! sagt der Kranke, auch du! Das Bett ist so fremd, aber es ist doch im Bunde.

Ein solcher Wille begründet Sekten und Religionen – Kafka hat Bücher geschrieben, einige wenige, unerreichbare, niemals auszulesende Bücher. Hätte sich der Schöpfer anders besonnen, und wäre dieser in Asien geboren: Millionen klammerten sich an seine Worte und grübelten über sie, ihr Leben lang.

Wir dürfen lesen, staunen, danken.

Weder Tucholsky noch die Weltbühne verwendeten den Begriff kafkaesk oder kafkisch, was laut Duden „nach Art der Schöpfungen Kafkas“ bedeutet.

Allerdings hat Tucholsky schon im Juli 1928 in einem Brief an Brod von der besonderen Wirkung berichtet, die von Kafkas Texten ausgeht:

Ich habe einmal eine Seite Aphorismen Kafkas gelesen, von denen mir ganz angst geworden ist. Man fragt sich immerzu: „Wer war das? Was ist das?“ Es gibt, wie mir scheint, überhaupt ein „Kafka-Gefühl“, ein Gefühl, das man nur beim Lesen seiner Werke hat. Über „Amerika“ schreibe ich bestimmt noch – das Buch hat eine ganz große Wirkung bei mir hinterlassen, größer noch als das „Schloß“ – es sind einige ganz vollendete Seiten darin.

Diese letzte Kafka-Rezension Tucholskys erschien im Februar 1929 in der Weltbühne.

Ich habe mich mit dem „Schloß“ Kafkas nicht im gleichen Maße befreunden können – es ist das ein Buch, in dem eine „Deutung“ der Vorgänge fast unumgänglich nötig erscheint, und weder hat mir die Deutung noch die Handlung gefallen. Hier in „Amerika“ aber ist jeder Vorgang Selbstzweck, dichterische Frucht und Blüte schmerzlicher Erkenntnis. Es läuft da ein Band vom Dostojewskischen Idioten über Schwejk zu der Hauptfigur des kleinen Karl – sie wehren sich gegen das Leben nicht, aber sie sind so allein und siegen noch in den Niederlagen. Was immer wieder an Kafkas Werk zur größten Bewunderung zwingt, ist die Unwiderruflichkeit der Szenen und ihre traumhafte Eindringlichkeit

Am schönsten an diesem großen Werk ist die tiefe Melancholie, die es durchzieht: hier ist der ganz seltene Fall, daß einer „das Leben nicht versteht“ und recht hat.

Peter Panter, Die Weltbühne, 26. Februar 1929

Zu seinem 100. Todestag hat Kafka sogar einen „Spiegel“-Titel bekommen. Tucholsky würde sich sicher darüber freuen und die Kafka-Lektüre mit den Worten empfehlen:

Sie meinen, das Buch sei schon vor langer Zeit erschienen? Ich meine, daß es eine Albernheit ist, nur „Neuerscheinungen“ zu kaufen – als ob man der Literatur mit der Fixigkeit nahe käme! Wir wollen nicht das Neuste lesen – wir wollen das Beste, das Bunteste, das Amüsanteste lesen. Ja, also Amerika.

Und natürlich immer mal wieder was von Tucholsky.

10.1.2024

Rezension: Die besten falschesten Zitate aller Zeiten

Es hat bisweilen etwas Tröstliches, wenn man sich nicht allein als ein Don Quijote fühlen muss, der gegen die Windmühlen der literarischen Ignoranz ins Feld zieht. Ein solcher Ritter ohne Furcht und Tadel ist gewiss der Österreicher Gerald Krieghofer, der sich den Kampf gegen falsch zugeschriebene Zitate, von ihm Kuckuckszitate genannt, fast schon zur Lebensaufgabe gemacht hat. Während sich das Sudelblog nur um Zitate kümmert, die Kurt Tucholsky falsch zugeschrieben werden, widmet sich Krieghofer seit Jahren auf seinem Blog sämtlichen „im deutschen Sprachraum verbreiteten Falschzitaten und Memes nach den Regeln der Zitatforschung“. Von der Antike bis zur Gegenwart, von Adenauer bis Zweig.

Kurt Tucholsky hatte gegen das Zitieren anderer Autoren nichts einzuwenden. Im Gegenteil. In einem seiner letzten Briefe vor seinem Tod schrieb er an seine Freundin Hedwig Müller:

Ich bin einmal ein Schriftsteller gewesen und habe von S.J. geerbt, gern zu zitieren.

Dass er selbst einmal zu den Prominenten wie Albert Einstein, Bertolt Brecht, Hildegard von Bingen oder Karl Valentin gehören würde, die am häufigsten falsch zitiert werden, hätte er sich sicher nicht träumen lassen. Aber Tucholsky kannte schließlich weder das Internet noch soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Laut Krieghofer ist aber auch „gefühlt jedes zweite Augustinus-Zitat auf Todesanzeigen (…) daneben“.

Wie aus Krieghofers frühen Blogposts zu sehen ist, hat er sich zunächst vor allem um Zitate gekümmert, die Karl Kraus fälschlicherweise zugeschrieben werden. Dass Krieghofer damit im Jahr 2007 anfing, ist wohl kein Zufall. Denn seitdem sind Kraus‘ Werke komplett online verfügbar.

Aber erst im April 2017 nahm Kriegshofers Sammlung richtig Fahrt auf und füllte sich fast jeden Tag mit neuen Kuckuckszitaten. Dabei beschränkt sich der Österreicher jedoch nicht nur darauf, eine falsche Zuschreibung nachzuweisen, sondern versucht mit sehr viel Akribie und Aufwand, die ursprüngliche Quelle des Zitates irgendwo in den Weiten des Internets zu finden.

Krieghofer kann zu diesem Zweck nicht nur auf digitale Sammlungen zurückgreifen, sondern auch auf ein weit verzweigtes Netzwerk an Helfern. So konnte er mit entsprechender Unterstützung im März 2022 schnell aufklären, wo mehrere angebliche Tucholsky-Zitate zum Thema Krieg ihren Ursprung hatten. Diese hatte sich ein Redakteur der Zeitschrift PM offenbar einfach ausgedacht.

Es ist daher nur konsequent, dass Krieghofer aus seiner Passion nun ein richtiges Buch gemacht hat. „Die besten falschesten Zitate aller Zeiten“ heißt die Sammlung, die im vergangenen Jahr im Wiener Molden Verlag erschienen ist. Auf 175 Seiten klärt er die Leser darüber auf, was neben Tucholsky und Kraus auch Personen wie Einstein, Steve Jobs, Franz Kafka, Marilyn Monroe, Helmut Schmidt oder Andreas Möller nie gesagt haben.

Krieghofer ist dabei nicht ganz unbedarft an die Sache herangegangen. So hat er nicht nur an zwei großen Wörterbuchprojekten in Österreich mitgearbeitet, sondern auch Workshops mit Lexikografen und Parömiologen besucht. Auch wenn sich manche darüber beömmeln mag, Parömiologie (Sprichwortforschung) ist tatsächlich eine wissenschaftliche Disziplin.

Die Lektüre des Buches ist spannend, amüsant, bisweilen auch deprimierend. So wird Kafka seit einigen Jahren das Zitat untergeschoben: „Kaffee dehydriert den Körper nicht. Ich wäre sonst schon Staub.“ Dabei hat Kafka leider sehr auf seine Gesundheit achten müssen und beispielsweise einmal an seine Verlobte Felice Bauer geschrieben: „Natürlich rauche ich auch nicht, trinke nicht Alkohol, nicht Kaffee, nicht Thee (…).“ Aber Kafka/Kaffee, das gehört wohl für manche irgendwie zusammen.

Aber bringt es überhaupt etwas, seine Mitmenschen auf die Verwendung falscher Zitate aufmerksam zu machen? Alleine auf Twitter tauchen ständig so viele Kuckuckszitate von Tucholsky auf, dass selbst ein Bot kaum hinterher kam, den Nutzern mahnende Tweets zu schicken. Es gibt keine empirische Untersuchung darüber, ob Krieghofer mit seiner Arbeit dazu beigetragen hat, die Flut einzudämmen. Möglicherweise ist es leider vergeblich, gegen diese Windmühlen anzukämpfen, zumal Twitter seit der Übernahme durch Elon Musk immer mehr zu einer braunen Jauchegrube verkommt.

Und was schreibt Krieghofer über Tucholsky?

In seine Auswahl hat Krieghofer auch den Satz aufgenommen: „Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik.“ Dieser zynische Spruch wird häufig Tucholsky zugeschrieben, weil er ihn in ähnlicher Form 1925 in seinem Artikel „Französischer Witz“ wiedergegeben hat.

Erst Anfang 2023 ist auf dem Sudelblog das Original ausfindig gemacht worden. Der Witz fand sich ursprünglich in: J.-W. Bienstock et Curnonsky: T.S.V.P. Petites histoires de tous et de personne. Paris: Crès 1924, S. 6f.

Krieghofer schreibt jedoch:

Diese Anekdote stand 1924 in der französischen Tageszeitung Paris Soir und wurde 1924 von den Autoren J.-W. Bienstock und Curnonsky zusammen mit anderen Szenen und Witzen als Buch mit dem Titel ‚T.S.V.P. Petites histoires de tous et de personne‘ veröffentlicht.

Eine Einschätzung, die jedoch nicht zutrifft. Schaut man sich den entsprechenden Artikel in der Gallica an, wird in der Fußnote ganz unten links ausdrücklich auf das bereits erschienene Buch hingewiesen. Zudem wird das Buch auf der Titelseite derselben Ausgabe in zwei anderen Artikeln erwähnt.

In einem Artikel des L’Intransigeant vom 3. Februar 1924 (dritte Spalte unten), also zwei Monate zuvor, wird das Buch von Bienstock und Curnonsky bereits besprochen. Der Autor zitiert zwar nicht direkt daraus, scheint es aber gelesen zu haben und empfiehlt es seinen Lesern.

Daher kann man davon ausgehen, dass die Anekdote zuerst in dem Buch veröffentlicht wurde und der Auszug im Paris Soir als Werbemaßnahme zu verstehen ist. Curnonsky selbst hat auf der Titelseite der Ausgabe zusätzlich einen eigenen Text über den französischen Humor veröffentlicht. Ob die beiden Autoren sich die Anekdote selbst ausgedacht oder sie aus einer anderen, noch nicht bekannten Quelle übernommen haben, bleibt jedoch offen.

Sei’s drum. Vielleicht gibt es noch eine zweite Auflage des Büchleins, in der Krieghofer die Angaben korrigieren kann. Wünschenswert wäre ebenfalls, dem Peter Panther auf Seite 40 noch das h wegzunehmen und Tucholskys Todesjahr auf Seite 173 von 1934 auf 1935 zu korrigieren. Das „angebliche Freu-Zitat“ auf Seite 75 ist sicherlich keine Freud’sche Fehlleistung, denn Krieghofer wird sich höchstens gefreut haben, dass ihn jemand auf das falsche Freud-Zitat aufmerksam gemacht hat.

Nicht erfreut hat uns leider der Preis des Büchleins. 22 Euro erscheinen uns ziemlich happig. Dem Molden-Verlag kann man daher nur mit einem garantiert echten Tucholsky-Zitat zurufen:“Macht unsre Bücher billiger! Macht unsre Bücher billiger! Macht unsre Bücher billiger!“

22.12.2023

Was wird aus dem Tucholsky-Museum in Rheinsberg?

Der Aufschrei in der Region und in der deutschen Kulturlandschaft hat Wirkung gezeigt. Das Tucholsky-Museum im brandenburgischen Rheinsberg soll doch nicht kaputt gespart werden. Nachdem die Stadt Rheinsberg im Oktober 2023 beschlossen hatte, die Stelle des scheidenden Museumsleiters Peter Böthig mit der Leitung der Tourist-Info zusammenzulegen, war das Museum umgehend auf die Rote Liste der bedrohten Kultureinrichtungen geraten. Der Deutsche Kulturrat rief die Stadt Rheinsberg und das Land Brandenburg auf, „die weitere wissenschaftliche Leitung des Museums sicherzustellen“.

Doch der Stadt fehlen dazu derzeit die finanziellen Mittel. Trotz einer Förderung durch das Land Brandenburg in Höhe von 65.000 Euro und weiteren knapp 15.000 Euro vom Landkreis belief sich das Defizit in diesem Jahr auf 241.000 Euro.

Eine Rettung ist nun in greifbare Nähe gerückt. Der Landkreis Ostprignitz-Ruppin erklärte am 1. Dezember 2023 seine Bereitschaft, für die klamme Stadt einzuspringen und das Museum in eigene Trägerschaft zu übernehmen. Zur Begründung hieß es:

Eine wissenschaftliche Leitung dieses Museums im bisherigen Umfang ist unabdingbar, um eine Fortführung auf dem heutigen Qualitätsniveau zu gewährleisten.

Die Übernahme soll zum 1. April 2024 vollzogen werden. Der Stadtrat von Rheinsberg befürwortete in einer Sitzung vom 18. Dezember 2023, Anfang kommenden Jahres die erforderlichen Verhandlungen zu starten. Museumsleiter Peter Böthig will seinen Vertrag dazu um einen Monat bis Ende März verlängern.

Der Ruppiner Anzeiger schrieb am 20. Dezember 2023:

In den Verhandlungen muss auch geklärt werden, wie mit der umfangreichen Sammlung des Museums umgegangen wird, die im Eigentum der Stadt ist. Eine mögliche Lösung wäre ein befristeter Leihvertrag, meint Peter Böthig, der den Wert auf eine halbe Million Euro schätzt.


Peter Böthig bei der Eröffnung der Else Weil-Ausstellung im Jahr 2010

Aus der Berliner Perspektive ist nicht ganz nachvollziehbar, warum die Situation in den vergangenen Wochen dermaßen eskalierte, dass sich sogar Kulturstaatsministerin Claudia Roth zu einem Statement bemüßigt fühlte. Diese Ansammlung von Plattitüden zu Tucholsky hätte der Öffentlichkeit durchaus erspart bleiben können.

Dass Peter Böthig Ende Februar in den wohlverdienten Ruhestand geht, ist schließlich schon seit langem bekannt gewesen. Wer nun dessen Nachfolge antritt, ist unklar. Wenn die Finanzierung gesichert ist, dürfte die Stelle neu ausgeschrieben werden.

Dem Museum und der Stadt bleibt zu wünschen, dass die neue Leitung nicht nur literaturwissenschaftliche Expertise mitbringt, sondern ebenso wie Böthig das kulturelle Leben in der Region mit Lesungen und Ausstellungen bereichert. Tucholskys Leben und Werk ist schließlich ziemlich gut erforscht. Es kommt heute vor allem darauf, die richtigen Lehren aus seinem damals vergeblichen Kampf gegen Nationalismus, Militarismus und Rechtsextremismus zu ziehen. Auch und gerade in der Brandenburger Provinz.

18.9.2023

Titanic retten, aber wie?

Es ist einerseits wohl der unaufhaltsame Lauf der Dinge, dass gedruckte Zeitungen und Zeitschriften immer schwieriger zu finanzieren sind. Andererseits ist es dennoch eine nicht so lustige Pointe, dass die Titanic finanziell schwer angeschlagen und im Sinken begriffen ist.

Wie gut das Heft derzeit noch ist, kann an dieser Stelle leider nicht beurteilt werden. Der jahrelange, regelmäßige Gang zum Kiosk wurde irgendwann vor etwa 10 Jahren eingestellt. Warum, ist im Nachhinein schwer zu sagen. Aber seit die Beiträge von Max Goldt praktisch aufhörten und auch andere gewohnte Rubriken eingestellt wurden, reichte irgendwann die kostenlose Webseite. Was natürlich kein wirklicher Ersatz ist, denn gerade die längeren Texte oder andere Formate finden sich eben nicht im Internet.

Ob die Titanic im Laufe der Jahrzehnte besser oder schlechter geworden ist, ist eine Geschmacksfrage. Humor, Interessen und Lesegewohnheiten verändern sich. Wenn aber – wie in der aktuellen Situation – die Ausgaben der Verlage stark steigen und dies nicht durch höhere Einnahmen kompensiert werden kann, wird das für kleine Verlage wie im Falle der Titanic schnell zu einer existenziellen Bedrohung. Wie die taz richtig bemerkt hat, betrifft das derzeit leider auch andere linke Publikationen wie das ND, Missy, Oxi oder Katapult.

Wie lässt sich also verhindern, dass die Titanic-Redakteure demnächst „Näher, mein Gott zu Dir“ singen müssen, wenn ihr Satireschiff ebenso wie das Original endgültig untergehen sollte? An Solidaritätsbekundungen mangelt es nicht. Doch 5.000 neue Abos sind eine Menge Holz.

Wie wäre es also, wenn beispielsweise die Kurt Tucholsky-Gesellschaft das Preisgeld ihres gerade heute vergebenen Tucholsky-Preises (PDF) für Titanic-Abos stiften würde? Für 5.000 Euro ließen sich fast 67 Jahresabos finanzieren. Dann fehlten nur 4.933. Das würde Tucholsky, einem ausdrücklichen Gegner aller Literaturpreise, sicherlich besser gefallen, als dass weiterhin ein Literaturpreis in seinem Namen vergeben wird. Und wer würde sich sonst in Zukunft falsche Tucholsky-Gedichte ausdenken, die uns zeigen, um wie viel besser er doch selbst gedichtet hat?

21.3.2023

Rezension: Man hat etwas gegen Sie vor. Kurt Tucholsky in Köln 1928/29

Auf den ersten Blick mutet es ein bisschen verwegen an, die wenigen Aufenthalte Kurt Tucholskys in Köln zu einem kompletten Büchlein auszuwalzen. Was in den gängigen Tucholsky-Biografien kaum mehr als eine Fußnote wert ist, hat der Kölner Historiker Mario Kramp auf knapp 90 Seiten dargestellt. Da Kramp einen sehr weiten Boten schlägt, – von Tucholsky Umzug nach Paris im Jahr 1924 bis zu dessen Tod im schwedischen Exil elf Jahre später -, hat das Büchlein dennoch genug Substanz und Unterhaltungswert. Nicht nur, aber gerade auch für Tucholsky-Fans.

Funktionieren kann nur, weil Kramp möglichst alle ihm verfügbaren Quellen auswertet, die sich mit Tucholskys Besuchen in der „Domstadt“ befassen. Und diese gibt es zuhauf. Denn Tucholsky weilte am Rhein nicht zum Vergnügen. In den Jahren 1928 und 1929 hat er vier Vorträge in Köln gehalten. Einen davon sogar im damals recht neuen Rundfunk.

Kramp fördert dabei interessante Berichte zutage, die ein gutes Licht auf die zeitgenössische Tucholsky-Rezeption werfen. Wie kaum anders zu erwarten, zeigten die damaligen Zeitungsartikel die tiefgehenden Risse, die durch die Gesellschaft der Weimarer Republik gingen.

Tucholsky war damals ebenso populär wie verhasst. Sein Kampf gegen den Militarismus passte den nationalistischen und reaktionären Kreisen ebenso wenig wie sein Werben für eine deutsch-französische Verständigung. Gerade am Rhein, der immer noch von französischen Truppen besetzt war. Die Tucholsky-Rezeption in Köln kann dabei exemplarisch für die Situation in der deutschen „Provinz“ stehen, was dieser in einem gleichnamigen Text in der Weltbühne vom Mai 1929 analysiert hat.

Von einer eindringlichen Warnung eines unbekannten Unterstützers ließ sich Tucholsky nicht davon abbringen, am 27. September 1928 einen Vortrag im Gebäude des Kunstvereins am Friesenplatz zu halten. „Man hat etwas gegen Sie vor“, hieß es in dem maschinengeschriebenen Hinweis.

Anders als im November 1929 in Wiesbaden sind Tucholskys Vorträge in Köln jedoch nie gestört worden. Ganz im Gegenteil. Seine Zuhörer waren meist begeistert über Inhalt und Art des Vortrags. Kronzeuge dafür ist auch bei Kramp der damalige Germanistikstudent Hans Mayer, der sich später als Literaturwissenschaftler mit dem „pessimistischen Aufklärer“ Kurt Tucholsky auseinandergesetzt hat.

Der Kölner Stadt-Anzeiger notierte damals:

Intellektuelles Volk drängt sich zuhauf im Kunstverein. Kein Stuhl bleibt unbesetzt. An den Wänden stehen Zuhörer, in den Gängen, an allen Ecken und Enden des überhitzten Raumes.

Das Thema des Vortrags lautete „Frankreich heute“. Laut Mayer versuchte Tucholsky den Zuhörern „die völlig andere Lebens- und Denkart des bürgerlichen Frankreich darzustellen“.

Deutlich mehr Aufsehen und Kontroversen erzeugte Tucholskys nächster Vortag in Köln. Denn damit erreichte der Schriftsteller nicht nur seine Fans, sondern auch seine Gegner. Am 22. März 1929 las er im Westdeutschen Rundfunk aus seinen Werken vor. Anschließend beschwerte sich ein Kreisverband der rechtskonservativen DNVP bei Rundfunkintendant Ernst Hardt über den Vortrag. Es sei

eine ungeheure Brüskierung weitester Kreise der Hörerschaft, einen Mann wie Tucholsky, Panther, Ignatz Wrobel usw. im Westdeutschen Rundfunk sprechen zu lassen, dazu noch am Tag des Buches.

Hardt entgegnete mit dem bemerkenswerten Satz:

jeder Hörer, welcher Tucholski nicht schätzt und nicht zu hören wünscht, konnte sich ja seiner Vorlesung durch Abschalten des Apparates entziehen.

Die Cancel Culture ist wahrlich kein neues Phänomen.

Leider ist von dem Vortrag keine Aufzeichnung erhalten. Sonst wäre auf diese Weise die Stimme Tucholskys der Nachwelt überliefert worden.

Am folgenden Tag, Karsamstag, gab es einen weiteren Vortrag. Dieses Mal in der Kölner Lesegesellschaft in der Langgasse. Tucholsky trug dabei wohl aus seinen Sammelbänden Mit 5 PS und Das Lächeln der Mona Lisa vor. Das Kölner Tageblatt lobte den Autor für „die glänzendste und überlegenste Zeitkritik, die man sich nur denken mag“.

Nicht ganz zutreffend scheint Kramps Behauptung, wonach Tucholsky am nächsten Morgen, dem 24. März 1929, nach Berlin aufgebrochen sein soll, um dort an einer Matinee mit seinen Werken teilzunehmen. Anders als von Kramp behauptet, endete dort auch nicht seine kleine Lesereise. Nach der Biografie von Michael Hepp trat Tucholsky noch am 25. März in Frankfurt und 27. März in Mannheim auf. Warum sollte er zwischendurch für einen Morgen nach Berlin gereist sein?

Der vierte und letzte Vortrag in Köln bildete am 18. November 1929 den Auftakt zu einer großen Lesereise, die Tucholsky über zehn Stationen durch große Teile Deutschlands führte. Dieses Mal widmete er sich vor allem juristischen Themen, darunter der Reform des Sexualstrafrechts. Dass er in dem Vortrag auch die Sexualmoral der Kirche kritisierte, gefiel der Presse im katholischen Rheinland jedoch gar nicht. Seine Auffassungen seien „armselig“ und nichts weiter als eine „snobistische Abendunterhaltung“, monierte die katholische Kölnische Volkszeitung.

Recht bekannt ist Tucholskys pessimistisches Resümee der Lesereise, das er in einem Brief an seine Ex-Frau Mary Gerold zog:

Im übrigen: für wen ich das eigentlich mache … das weiß ich nach dieser Reise weniger als je. Es ist trostlos. Allerdings bezieht sich das auf die Bürgerschaft – vor Arbeitern habe ich nicht gesprochen. Das ist dann vielleicht anders.

Damit endet Kramps Buch jedoch noch nicht. Im letzten Kapitel, mit Schicksale überschrieben, widmet er sich den Lebensläufen der Personen, die an den Kölner Vortragen mittel- oder unmittelbar beteiligt waren. Dazu zählt neben Rundfunkintendant Hardt auch der Buchhändler Paul Wolfsohn, der Tucholsky im Jahr 1928 engagiert hatte. Der jüdische Kaufmann Erich Leyens, der Tucholsky vor dem kriegerischen Revanchegeist im Rheinland gewarnt hatte, musste über Italien und Kuba in die USA emigrieren.

Dann sind die rund 90 Seiten von Kramps Büchlein auch schon vorbei. Es hätten ruhig ein paar mehr werden können, dann hätte man die Fußnoten im Anhang nicht ganz so klein drucken müssen.

Mario Kramp: Man hat etwas gegen Sie vor. Kurt Tucholsky in Köln 1928/29, Greven Verlag Köln, 2022, 92 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-7743-0952-4

8.3.2023

Tucholsky und die Statistik des Todes

Als engagierter Pazifist und Antimilitarist hat sich Kurt Tucholsky in seinen Texten intensiv mit dem Thema Krieg beschäftigt. Sein Diktum „Soldaten sind Mörder“ wird immer noch stark rezipiert und ist heute so umstritten wie im Jahr 1931, in dem es geprägt wurde.

Kaum weniger häufig wird Tucholsky ein Spruch zugeschrieben, der eine sehr zynische Auffassung vom Wert des Menschenlebens vertritt:

„Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik.“

Dieser Satz findet sich in der Tat in einem Artikel Tucholskys aus dem Jahr 1925. In „Französischer Witz“ beschäftigt er sich mit mehreren neu herausgekommenen Witzsammlungen in seinem Gastland. Die gesamte Passage lautet:

Das Spezifische des französischen Witzes ist seine Leichtigkeit, seine Delikatesse, seine Eleganz. Da schreibt etwa der zurückgetretene Minister an den Staatssekretär des Post- und Telegraphenwesens eine Stunde nach seinem Sturz: „Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern …“ Die Handbewegung, mit der eine Formulierung herausgebracht wird, ist ganz locker. Es wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d’Orsay: „Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Die Sprache dieser Diplomaten ist eben die französische, und die Definition des Berufes heißt so: „Ein Diplomat, mein liebes Kind, ist ein Mann, der das Geburtsdatum einer Frau kennt und ihr Alter vergessen hat!“

Es ist also ganz offensichtlich, dass Tucholsky diesen zynischen Spruch nicht selbst geprägt hat. Dass dieser ebenso häufig dem sowjetischen Diktator Stalin zugeschrieben wird, dürfte Tucholsky sicherlich nicht als schmeichelhaft empfunden haben. In mehreren Untersuchungen zum Ursprung des Zitats, beispielsweise auf Quote Investigator oder bei Oxford Reference, wird Tucholsky dennoch ausdrücklich als Urheber genannt.

Das Problem an der bisherigen Quellenlage: Aus Tucholskys Text geht nicht hervor, in welcher der genannten Sammlungen sich dieser Witz befindet. Daher war eine exakte Quellenangabe bislang nicht möglich.

Über die Antiquariatsplattform ZVAB kann man jedoch an die besprochenen Bücher gelangen. Und siehe da, gleich in dem erstgenannten wird man fündig. Der Witz findet sich in: J.-W. Bienstock et Curnonsky: T.S.V.P. Petites histoires de tous et de personne. Paris: Crès 1924, S. 6f

Un soir, dans un salon mondain. Des gens dissertent sur la guerre. Un ancien combattant raconte en termes émus la mort d’un de ses amis. Une dame pleure, elle songe à son mari mort au champ d’honneur.
– La guerre est une chose terrible, unjustifiable, soupire-t-elle.
Alors, un diplomate bien connu du quai d’Orsay, qui jusque-là n’avait pas pris part à la conversation, dit avec une tranquille suffisance.
– La guerre? ce n’est pas si terrible! La mort d’un homme est en effet chose épouvantable, mais cent mille morts, c’est une statistique.

Eines Abends in einem mondänen Salon. Einige Leute unterhalten sich über den Krieg. Ein Veteran erzählt in bewegten Worten vom Tod seines Freundes. Eine Frau weint und denkt an ihren Mann, der auf dem Feld der Ehre gefallen ist.
– Der Krieg ist etwas Schreckliches, nicht zu rechtfertigen, seufzt sie.
Da sagt ein bekannter Diplomat vom Quai d’Orsay, der sich bis dahin nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, mit ruhiger Selbstgefälligkeit.
– Der Krieg? Der ist gar nicht so schlimm! Der Tod eines Menschen ist in der Tat etwas Furchtbares, aber hunderttausend Tote, das ist eine Statistik.


Der Witz im Original.

Doch wer sind die Autoren Bienstock und Curnonsky?

Jean-Wladimir Bienstock war laut Wikipedia ein französisch-russischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Übersetzer. Er wurde 1868 in der Ukraine geboren und starb 1933 in Paris. Der zum Katholizismus konvertierte Jude übersetzte wichtige russische Autoren wie Tolstoi und Dostojewski ins Französische.

Hinter dem Pseudonym Curnonsky verbirgt sich Maurice Edmond Sailland (1872-1956), ein französischer Romanautor, Gastronom, Humorist und Restaurantkritiker, der zum „Prinz der Gastronomen“ avancierte.

Von wem nun Bienstock und Curnonsky den Witz aufgeschnappt oder ob sie ihn sich selbst ausgedacht haben, wird wohl für immer deren Geheimnis bleiben. Zumindest, solange keine frühere Quelle dafür auftaucht.

Erstaunlich bleibt auf jeden Fall die Tatsache, dass der Spruch in seinem Ursprungsland nicht so verbreitet ist wie im deutsch- oder englischsprachigen Raum. Der französische Jura-Professor Patrick Morvan, der sich ebenfalls mit Ursprung des Zitats beschäftigt hat, brachte dessen Irrwege wie folgt auf den Punkt:

Der Satz, der in den Augen eines frankophilen Deutschen und Liebhabers von Bonmots die Quintessenz des französischen satirischen Geistes war, landete über einen Umweg, dessen Geheimnis die Geschichte kennt, in Stalins Mund!


Umschlag des Buches.

1.3.2022

Tucholsky und der Krieg

Die Invasion der Ukraine ist eine politische Zäsur, die an den Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen im Jahr 1939 erinnert. Auch wenn Tucholsky den Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebte, hat er in seinen Schriften jahrelang vor einem neuen Krieg in Europa gewarnt. Dass die Pazifisten in Deutschland trotz der Schrecken des Ersten Weltkriegs einen aussichtslosen Kampf führten, war ihm schmerzlich bewusst.

Es wundert daher nicht, dass in den sozialen Medien seit Beginn des Ukraine-Krieges vielfach an die pazifistischen Gedichte und Texte Tucholskys erinnert wird. Sei es an das Gedicht „Der Graben“ oder den Satz „Soldaten sind Mörder.“.

Obwohl sich im Werk Tucholskys unzählige kriegskritische und antimilitaristische Äußerungen finden, ist in den vergangenen Tagen ein Zitat recht populär gewesen, das gar nicht von ihm stammt. Es lautet:

Jeder Krieg ist eine Niederlage. Denn Krieg vernichtet Leben.

Das klingt einfach und schlicht. Fast zu schlicht für Tucholsky. Denn von ihm stammen deutlich pointiertere Aussagen wie „Jeder Krieg ist ein Verbrechen“ oder

Jeder Krieg hat wirtschaftliche Ursachen – aber er hat auch einige, die nur aus biologischen Grundlagen zu erklären sind. Eine davon ist tierische Anbetung der Gewalt, allemal dann, wenn sie bunt kostümiert ist.

Das falsche Tucholsky-Zitat erinnert hingegen einen Satz, der vom US-amerikanischen Schriftsteller Henri Miller stammt:

Jeder Krieg ist eine Niederlage des menschlichen Geistes.

(Original: Every war is a defeat to the human spirit. In: The Colossus of Maroussi)

Wo das falsche Tucholsky-Zitat herkommt, ist wie in den meisten Fällen unklar. Leider findet es sich in großen Zitate-Sammlungen wie aphorismen.de oder gutezitate.com und wird daher bis zur Zerstörung des Internets im nächsten Atomkrieg nicht aus der Welt zu bringen sein.

Sehr aufschlussreich, auch für die heutige Situation, sind hingegen Tucholskys Einschätzungen zur Bekämpfung militaristischer Staaten aus dem Jahr 1935. In einer Briefbeilage, dem sogenannten Q-Tagebuch, schrieb er an seine Zürcher Freundin Hedwig Müller:

Nichts als Pacifist zu sein – das ist ungefähr so, wie wenn ein Hautarzt sagt: „Ich bin gegen Pickel.“ Damit heilt man nicht. Ich weiß Bescheid, denn ich habe diese Irrtümer hinter mir. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung läßt scharf und genau einen Teil der Kriegsgründe begreifen, die immer da sind, wenn Absatzgebiete geschaffen werden sollen. Das ist – gegen die rosenroten Idealisten – eine sehr gute Lehre. Aber sie ist nicht vollständig. Ein Teil liegt im Wesen der Menschen. „Es wird immer Kriege geben.“ Es wird auch immer Morde geben. Es fragt sich nur, wie die Staatsordnung Krieg und Mord bewertet. Den Mord bewertet man als Rechtsbruch – den Krieg als Naturereignis, mehr: als eine heroische Sache. Er ist, oft und in vielem, eine Schweinerei. Also -?

Tucholsky kommt zu dem Schluss, dass man Staaten wie Nazi-Deutschland nicht mit Zugeständnissen von ihrem Kriegskurs abbringen kann:

Will man aber den Krieg verhindern, dann muß man etwas tun, was alle diese nicht tun wollen: Man muß bezahlen.

Ein Ideal, für das man nicht bezahlt, kriegt man nicht.

Ein Ideal, für das ein Mann oder eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt – das ist ein Naturgesetz. Der Rest ist Familiäre Faschingsfeier im Odeon.

Einen Interventionskrieg gegen Deutschland lehnte Tucholsky jedoch ab. Das wäre so, „wie wenn man meine Mama, um sie zu ändern, ins Gefängnis sperren wollte“. Einen Rüstungswettlauf, wie er sich nun wieder andeutet, hielt er ebenfalls für kontraproduktiv.

Zwischen diesem Krieg und einer energischen und klaren Haltung aller Mächte Europas ist noch ein großer Unterschied. (…)

Ich halte im übrigen dieses Wettrüsten für Wahnwitz – es muß zum Kriege führen, und es ist gar kein Mittel, wie das Weißbuch sagt, ihn zu verhindern. Aber das nur deshalb, weil die Regierungen, vollgesogen – von Minger bis zu Lloyd George – von der blödsinnigen Idee der absoluten Souveränität – in Anarchie leben und keine Rechtsordnung über sich anerkennen wollen. Also muß der Friedenstörer, der ja Deutschland ist, den Ton angeben, wie ja immer der niedrigste den Ton angibt. Hier war der Kern – seit 1919 nur hier. Jetzt ist es viel zu spät, und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Die von Tucholsky vorgeschlagenen Mittel erinnern an die heutigen wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Aber nicht nur das:

Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen. Vor allem aber, und das halte ich für das schrecklichste: die geistige Haltung hätte eben anders sein müssen, aber sie konnte nicht anders sein, denn da ist nichts. Man siegt nicht mit negativen Ideen, die ja stets das Verneinte als Maß aller Dinge anerkennen – man siegt nur mit positiven Gedanken. Europa hat keine. Beharren ist nichts. Es geht zurück. Es verliert.

Es bleibt zu hoffen, dass die Invasion in der Ukraine nicht zu einem nächsten großen Krieg in ganz Europa führen wird.

Nachtrag vom 8. März 2022: Der Kuckucks-Zitate-Forscher Gerald Krieghofer hat herausgefunden, wie das Zitat offenbar in die Welt gekommen ist:

Die Zeitschrift „P.M. – Peter Moosleitners interessantes Magazin“ (4/2003) brachte im März 2003 folgende 5 Grundsätze Kurt Tucholskys, die angeblich aus seinem Werk „Wenn sie wieder lügen“ stammen.

Aber, weder gibt es ein Werk Tucholskys mit dem Titel „Wenn sie wieder lügen“, noch stammt einer dieser 5 Grundsätze so oder so ähnlich wirklich von dem 1935 verstorbenen Satiriker Kurt Tucholsky.

Der P.M.-Autor hat dabei absurderweise einen Artikel über Kriegslügen und Kriegspropaganda mit falschen Tucholsky-Zitaten garniert. Dabei scheint der Rest des Artikels solide zu sein. Schon merkwürdig, wie das zustande gekommen ist.

7.12.2021

Wie die AfD mit einem falschen Tucholsky-Zitat den Bürgerkrieg herbeifantasiert

„Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.“ Dieses angebliche Tucholsky-Zitat hat vor allem vor Bundestagswahlen in Deutschland Hochkonjunktur und ist nach Ansicht der taz „der größte Quatsch seit der Erfindung des politischen Witzes“.

Das hat die bayerische AfD-Landtagsabgeordnete Anne Cyron nach Angaben des Bayerischen Rundfunks nicht daran gehindert, in einem parteiinternen Telegram-Chat folgenden Text zu posten:

Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten – hat Tucholsky auch schon gewusst. Denke, dass wir ohne Bürgerkrieg aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen werden.

Der BR schreibt einschränkend:

„Immer wieder wird dieses Zitat Kurt Tucholsky zugeschrieben. Ob es von ihm stammt ist unklar.“

Das ist nicht nur „unklar“, sondern sehr unwahrscheinlich. Denn in seinem digital vorliegenden Werk findet es sich nicht. Außerdem musste Tucholsky in der Weimarer Republik am eigenen Leib erfahren, dass Wahlen sehr wohl etwas ändern können. Denn schließlich sind die Nationalsozialisten, die ihn 1933 ausgebürgert haben, mit Hilfe demokratischer Wahlen an die Macht gekommen.

So schrieb schon am 16. Juli 1929 der Journalist Heinz Pol in der „Weltbühne“:

Bis auf weiteres bleiben parlamentarische Erfolge auch der antidemokratischsten Parteien der sichtbarste Beweis für das Anwachsen einer Bewegung. Die Nationalsozialisten, denen doch das parlamentarische System so verhaßt ist und die so emphatisch jede Mehrheit für Unsinn erklären, wissen augenblicklich des Jubelns kein Ende über ihre gewiß imponierenden Wahlerfolge in Mecklenburg, in Sachsen, in Koburg und auf den Universitäten.

Eine AfD-Politikerin daran erinnern zu müssen, dass Wahlen sehr wohl etwas ändern können, ist schon ein Treppenwitz der Geschichte. Dass ausgerechnet Tucholsky dazu herhalten muss, einen gewaltsamen Sturz des demokratischen Systems zu begründen, ist eine literarische Leichenschändung.

28.11.2021

Zur Versachlichung der Tucholsky-Debatte

Um es gleich am Anfang zu klären: Darf ein Satiriker einem anderen Satiriker aus satirischen Gründen seinen Text unterschieben? Da die Satire laut Tucholsky bekanntlich alles darf, ist es von Titanic-Autor Cornelius Oettle besonders elegant gewesen, diesen Text gleich unter Tucholskys Namen zu veröffentlichen: „Zur Versachlichung der Impfdebatte“ heißt das Gedicht, das seit dem 26. November 2021 auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken die Runde macht.

Das Gedicht hat offensichtlich so wenig mit Tucholsky zu tun wie die Titanic mit der Weltbühne, in der es im Jahr 1928 erschienen sein soll. Von daher ist es keine Tucholsky-Parodie, sondern lediglich der Versuch, mit der Zuschreibung zu einem bekannten Autor und der Datierung in eine völlig andere Epoche mehr Aufmerksamkeit zu generieren. Nur die wenigsten dürften zudem wissen, dass 1928 sicherlich nicht über eine Zwangsimpfung gegen Diphtherie diskutiert wurde, wie es Oettle einleitend behauptet.

Es erscheint daher als reine Willkür, den Text Tucholsky zuzuschreiben. Ebenfalls erinnert die von Oettle gestiftete Verwirrung an das angebliche Tucholsky-Gedicht zur Finanzkrise. Dieser poetische Hoax aus dem Jahr 2008 ging allerdings nicht auf den tatsächlichen Autor des Gedichts zurück, sondern entstand aus einer Verkettung falscher Zuschreibungen im Internet.

Warum hat Oettle das Gedicht nicht unter seinem eigenen Namen veröffentlicht? Vielleicht wollte er damit die Literatur- und Medienkompetenz der Twitter-Nutzer testen. Wer glaubt, dass ein bekannter Autor wie Tucholsky schon Impfverweigerer in den Knast stecken wollte, hat wohl weniger Hemmungen, seine Zustimmung zu solchen Überlegungen zu äußern. Darauf sind in der Tat viele Leute reingefallen. Wobei die Zahl derjenigen, denen die Attribution merkwürdig vorkam, größer gewesen sein dürfte. Laut Kuckuckszitate-Sammler Gerald Krieghofer haben in zwei Tagen „bald 10.000 Leute nachgeschaut, ob das stimmt“.

Was schrieb Tucholsky zum Thema Impfen?

Abgesehen davon, wie sinnvoll eine solche Falschzuschreibung ist, stellt sich durchaus die Frage, ob und wie sich Tucholsky in seinem Werk zum Thema Impfen geäußert hat. Schließlich gab es seit der Einführung der zwangsweisen Pockenimpfung im deutschen Kaiserreich eine lautstarke Gruppe von Impfgegnern und eine kontroverse Debatte.

In der Weimarer Republik erfuhr die Impfdebatte durch das sogenannte Lübecker Impfunglück neuen Auftrieb. Durch kontaminierten Tuberkulose-Impfstoff waren im Jahr 1930 77 Kinder gestorben. In der Weltbühne vom 19. August 1930 durfte der Schriftsteller Walther von Hollander ziemlich unwissenschaftlich gegen den „Impfwahn“ wettern.

Als Jurist hat sich Tucholsky hingegen nicht zu medizinischen Fragen des Impfens geäußert. Sogar im Alter von 43 Jahren hat er sich noch impfen lassen.

Ich schreibe Ihnen noch, wohin ich mache – ich werde hier geimpft, vielleicht nützt es was. Dann trudele ich langsam ab – und ich wäre mächtig froh, wenn wir uns vorher sähen.

schrieb er am 4. April 1933 von Zürich aus an seinen Freund Walter Hasenclever. Wogegen er geimpft wurde, ist nicht bekannt.

Das ist allerdings die einzige Impfäußerung Tucholskys mit persönlichem Bezug. Die weiteren Fundstellen sind eher ein Ausdruck davon, wie selbstverständlich das Impfen in der damaligen Zeit war.

So schrieb er am 10. Mai 1923 in der Weltbühne:

Im Kriege hatte der Soldat in der einen Hand seine Waffe und in der anderen eine Liste; auf der stand geschrieben:

Ich glaube, wenn man unserm Volk seine Listen wegnähme, es wüßte überhaupt nicht mehr, was es noch hienieden sollte. Denn ob wir befähigt sind, Kriege zu führen und das Staatsruder zu führen – das steht noch dahin – aber Listen führen – das können wir.

Anderswo gehen die Leute durch den grünen Wald – bei uns geht alles durch die Bücher. Denken Sie mal, was alles bei uns eingetragen wird:

Geburt, Impfung, Amme; Schulgang und Rausschmiß, erste Liebe (Grober öffentlicher Unfug, Alimentation usw.) (…)

Oder am 11. September 1928, ebenfalls in der Weltbühne:

Der Kriminal-Roman ist die Ausspannung von der alltäglichen Tätigkeit: wer in der Geisbergstraße wohnt, eingetragen auf dem Einwohner-Meldeamt, mit Steuerbogen, Führerschein, Geburtszeugnis und Impfattest, der liebt die Pyramiden, in deren Innern sich die arabischen Wüstenräuber aufhalten …

Ähnlich hieß es in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) im Jahr 1930 (Nr. 14):

Kein Konsulatsbeamter sagt: „Kommen Sie wegen des Visums morgens nochmal. Wir brauchen dazu ein Impfzeugnis Ihrer Großmutter und eine schriftliche Bescheinigung, daß Sie in unserem Lande keine Papageienzüchterei aufmachen wollen. Und … haben Sie selbst ansteckende Krankheiten? … oder sind Sie Bolschewist …?“

Ein Hinweis auf ganz spezielle Impfung findet sich in der Weltbühne vom 3. Juni 1930:

Wir verdanken Gustav Meyrink die schöne Geschichte vom „Schöpsoglobin“, darin die Affen des Urwaldes mit einer Lösung geimpft werden, die heftigen Patriotismus erzeugt. Die Impfung richtet denn auch schreckliche Verwüstungen unter den Tieren des Waldes an: sie gehen mit markerschütterndem Stumpfsinn hinter einem Riesenaffen her, der sich das Gesäß mit Goldpapier beklebt hat … man lese das nach (…)

Zur Spanischen Grippe finden sich ebenfalls einige Fundstellen in Tucholskys Briefen. So behauptete er im Juli 1918 in einem Schreiben an Hans Erich Blaich:

Ich habe mir zwar noch nicht die gefährlichen lateinerischen Krankheiten acquirieret, vor denen Sie mich gewarnt haben, aber die spanische Grippe – worauf sich zu Unrecht „Hippe“ reimt – wars doch schon.

Im Februar 1919 räumte er in einem weiteren Brief an Blaich hingegen ein, nicht ganz an die Existenz dieser Pandemie geglaubt zu haben:

Viel wichtiger aber ist, daß es Ihnen und Ihrer Frau nicht gut ging – ich dachte, die Grippe sei eine Berliner Erfindung.

Beim Ausbruch der Spanischen Grippe befand sich Deutschland allerdings im Ersten Weltkrieg. Daher konnte man öffentlichen Verlautbarungen nicht unbedingt vollen Glauben schenken.

Zum Abschluss noch einen echten Impfwitz von Tucholsky, veröffentlicht am 10. Februar 1917 in der Feldzeitung Der Flieger:

Die Lady
Vor einiger Zeit tanzte Lady Constance Stewart-Richardson, die Nichte der Herzogin von Sutherland, im Palace-Theater zugunsten eines wohltätigen Zwecks. Nun sind in der Stadt einige Pockenfälle vorgekommen, und die Dame wünscht geimpft zu werden, „aber an einer Stelle“, sagte sie zu ihrem Arzt, „wo es, wenn ich tanze, nicht gesehen werden kann.“ Der Doktor erwiderte, es würde unter diesen Umständen zweckmäßig sein, wenn er selbst sehe und einer Vorstellung beiwohne. Dann – nach dem letzten Tanzabend – sagte er: „Gnädige Frau – da gibts nur eins. Sie müssen den Impfstoff verschlucken!“

1.2.2021

Das Plagiats-Wunder von Lourdes

Was macht man, wenn man ein Buch übersetzt hat, das außerhalb katholischer Kreise vermutlich nur wenige Leser interessiert? Ein handfester literarischer Skandal könnte aus Promotionsgründen sicher nicht schaden.

Dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre von Hartmut Sommers Artikel „Was haben Sie da nur gemacht, Herr Tucholsky?“ in der nicht minder katholischen „Tagespost“ auf. Darin wird Kurt Tucholsky unterstellt, aus dem Buch Les foules de Lourdes des französischen Autors Joris-Karl Huysmans abgeschrieben zu haben. Sommers Übersetzung Lourdes: Mystik und Massen ist im vergangenen Jahr erschienen.

Die Vorwürfe betreffen das Kapitel über den französischen Wallfahrtsort Lourdes in Tucholskys 1927 erschienener Reisebeschreibung Ein Pyrenäenbuch.

Sommer schreibt:

Tucholskys Biograph Rolf Hosfeld bescheinigt ihm: „Mit dem geübten Blick eines Theaterkritikers erzählt Tucholsky im Pyrenäenbuch die Dramaturgie des Wunderspektakels eines ganzen Tages.“ Doch wie lange war Tucholsky wirklich selbst dort und was hat er selbst beobachtet, muss man sich fragen. Die meisten Beschreibungen jedenfalls sind offenbar von Huysmans Lourdes-Buch übernommen, als sehr eng daran angelehnte Wiedergabe oder als sehr ähnliche Paraphrase.

Das ist harter Tobak. Wird Tucholsky nun postum des Plagiats überführt, so wie im Jahr 1904 sein Mentor und väterlicher Freund Siegfried Jacobsohn? Dieser hatte als junger Theaterkritiker wortwörtlich Passagen aus früheren Artikeln des Kritikers Alfred Gold übernommen und war deshalb von seiner Zeitung entlassen worden. Dazu würde gut passen, dass Tucholsky das Pyrenäenbuch dem Ende 1926 unerwartet gestorbenen Jacobsohn gewidmet hat.

Wer von Sommer nun eine „Smoking gun“ erwartet, um Tucholskys geistigen Diebstahl nachzuweisen, wird jedoch arg enttäuscht. Als erstes Beispiel nennt er:

Tucholsky: „Es ist eine kleine Felsgrotte, ein paar Meter tief, mit einem schmiedeeisernen Gitter. ‚Entrée‘ und ‚Sortie‘ steht daran, auf blauen Emailschildern in weißer Schrift; einen Augenblick lang zieht ein Straßenschild an meinem Auge vorüber…“
Huysmans: „Schade, dass sie [die Grotte] so organisiert ist mit ihrer eingefassten Quelle, deren Wasser in Leitungen verborgen ist wie gewöhnliches Wasser, mit ihren Gittern wie in öffentlichen Gärten und blauen Emailleschildern, vergleichbar mit denen an unseren Straßenecken, auf denen in weißer Schrift auf der einen Seite ‚Eingang‘ und auf der anderen ‚Ausgang‘ steht.“

Da haben offenbar zwei Menschen ein und denselben Ort beschrieben und dabei ähnliche Beobachtungen gemacht. Wenn Sommers Definition zutrifft, dann muss die halbe Reiseliteratur aus Plagiaten bestehen. („Vor der Mona Lisa drängeln sich in Ihrem Text auch die Menschenmassen? Plagiat!“)


Die Grotte von Massabielle.

Nach dieser Logik liefert Sommer noch eine ganze Reihe weiterer „Belege“. Alles, was sich bei Tucholsky findet und von Huysmans in ähnlicher Weise beobachtet worden war, muss folglich übernommen worden sein.

Völlig absurd wird die Beweisführung in folgendem Beispiel:

Oft gerät die Übernahme des Huysmans’schen Berichtes, der das Gesehene dem Leser bildkräftig und vieldimensional vor Augen stellt, bei Tucholsky nur noch zu einer kümmerlichen Schrumpfform. Tucholsky etwa schreibt: „Die ganze Luft riecht nach Vanille“, während uns Huysmans geradezu in das volkstümliche Treiben versetzt: „Über allem hängt der Geruch von Vanille in der Luft. Die Bergbewohner verpesten Lourdes, indem sie von morgens bis abends mit Bündeln von Vanilleschoten umhergehen, deren Essenz schon von Konditoren und Parfümeuren abgezogen wurde, die man aber betrügerisch mit einigen Tropfen Duftstoff aufgefrischt hat.“

Tucholsky hat demnach so dilettantisch von Huysmans abgeschrieben, dass die Übernahme überhaupt nichts mehr mit dem Original zu tun. Nicht einmal richtig plagiieren kann er, der „Schnell- und Vielschreiber“, wie ihn Sommer bezeichnet.

Aber warum sollte Tucholsky es überhaupt nötig gehabt haben, Huysmans‘ Schilderung zu übernehmen? Schließlich war diese schon 20 Jahre vorher, im Jahr 1906, erschienen. Da könnte sich sogar im katholischen Lourdes manches geändert haben. War Tucholsky vielleicht ein entfernter Vorläufer des Spiegel-Autors Claas Relotius, der sich preisgekrönte Reportagen ausgedacht hat, anstatt selbst zu recherchieren?

Zwangsaufenthalt wegen böser Waldschlucht

Nicht einmal Sommer dürfte bezweifeln, dass sich Tucholsky von Mitte August bis Mitte Oktober 1925 tatsächlich in den Pyrenäen und auch in Lourdes aufgehalten hat. Stattdessen liefert er eine andere Erklärung:

(…)Tucholsky fehlten offenbar eigene Eindrücke, als er nach seiner Rückkehr das „Pyrenäenbuch“ verfasste, weil er wohl wenig Lust gehabt hatte, die religiöse Atmosphäre des Wallfahrtortes zu nahe an sich herankommen zu lassen. Der authentischste Teil seines Lourdes-Kapitels ist denn auch die Beschreibung eines Besuchs der Burg mit dem volkskundlichen Museum, von dem aus man in sicherem Abstand von der Stadt und dem heiligen Bezirk auf das Prozessionstreiben dort hinabschauen kann.

Viel Zeit für Lourdes selbst blieb dann wohl nicht.

Dieser letzte Satz ist eine einzige Frechheit. Was in Hosfelds Biografie nicht enthalten ist, geht unter anderem aus einem Brief Tucholskys an Heinrich Mann vom 7. November 1925 hervor:

Ich habe zwei Monate in den Pyrenäen – einschließlich Lourdes – gesteckt – nicht ohne in einer bösen Waldschlucht mir das Schienenbein glorios aufgeschlagen zu haben – und dann haben sie mich in Lourdes operiert (ohne Wunder).

Oder auch aus dem Text „Der Reisegott Zippi“ vom März 1927:

Ich hatte mir über einer Baumwurzel ein Bein aufgeschlagen, und mußte nach Lourdes zurückfahren, um mir von einem richtigen Menschenarzt im Bein herumschneiden zu lassen. Mit der Wunderquelle hatte ich es nicht so im Sinn … Der Arzt, ein tüchtiger piksauberer Mann, schnitt, verband und packte mich für zehn Tage ins Bett.

Notgedrungen muss sich Tucholsky wegen des Sturzes in der Schlucht von Kakaouetta (beschrieben im Kapitel „Lieber Jakopp“) nicht nur wenige Tage, sondern wohl gut zwei Wochen in Lourdes aufgehalten haben. Das geht auch – kaum übersehbar – aus dem Pyrenäenbuch hervor.


Die Schlucht von Kakouetta.
Foto: Ancalagon, Lizenz: CC-by-SA 3.0

Ja, man sieht zu viel. Treibe dich vierzehn Tage in der Stadt herum, und du fühlst nie mehr nasse Augen, aber manchmal ein verdächtiges Zucken im Gesicht. (…)

Man darf nicht verweilen. Man sieht zu viel. (…)

Man sieht zu viel. Man sieht, bei längerm Aufenthalt, wie es gemacht wird, sieht am Häuschen hinter der Basilika die Aufschrift: „Hommes“ – „Femmes“ und „Cabinets Reservés“, wonach also zu schließen wäre, daß die Geistlichen, denen man sie reserviert hat, weder Männchen noch Weibchen sind …

Aber laut Sommer hat Tucholsky das alles nur abgeschrieben, weil er, der evangelisch getaufte Jude, die „religiöse Atmosphäre des Wallfahrtortes“ nicht zu nahe an sich heranlassen wollte.

Erstaunlicherweise hat Tucholsky in dem Text „Aus aller Welt“ das Pyrenäenbuch selbst als eher untypische Reiseliteratur gesehen, denn es sei

darin mehr von meiner Welt als von den Pyrenäen die Rede,

Aber nicht das ganze Buch:

nur das Kapitel über Lourdes macht eine Ausnahme. Ich konnte zum Beispiel mit den Leuten nicht baskisch sprechen – wie soll ich diesen Landstrich ganz begreifen?

Diese Sprachbarriere gab es in den zwei Wochen Lourdes hingegen nicht. Tucholsky konnte daher nicht nur Huysmans‘ Buch lesen, sondern sich in Lourdes sogar mit echten Franzosen unterhalten.

Wie kam Sommer Tucholsky auf die Schliche?

Aber wie ist Sommer dem angeblichen Plagiator Tucholsky auf die Schliche gekommen? Hat in Deutschland noch nie jemand die Schilderungen Huysmans‘ gelesen, bevor Sommer sie nun erstmals ins Deutsche übersetzt hat?

Moment mal, heißt es im Pyrenäenbuch nicht an einer Stelle:

Die Ausstattung in den Kirchen. „Aber das übersteigt die kühnsten Träume. Mit Kunst, selbst mit Kunst in ihrer niedrigsten Entartung, hat das hier überhaupt nichts zu tun. Das ist nicht einmal schlecht …“ Nein, es ist grauslich. „Das ist alles so häßlich! Wenn es wenigstens naiv wäre – aber leider: grade das ist es nicht.“ Das sagt ein Freigeist? ein frecher Aufklärichtsmann? ein Kerl, der vom Katholischen nichts versteht -? Ach, es ist J.-K. Huysmans, dessen A rebours Oscar Wilde zum Dorian Gray angeregt hat, der in den Schoß der Kirche zurückgekehrte, reuige Sünder.

Fünf Mal wird Huysmans in dem Kapitel über Lourdes erwähnt. So auch hier:

Und so vieles hiervon steht bei Huysmans. Sein Fanatismus hat ihn, den Frischbekehrten und also lächerlich Überhitzten, nicht gehindert, in Lourdes die Augen aufzumachen. Auf einen Teil der schwarzen Flecke hat er mich erst aufmerksam gemacht, und wenn ich zögerte, mir Luft zu machen, so stärkte mich ein Blick in sein Buch. Da stands noch viel schlimmer.

Vielleicht hat ihn Huysmans auch auf folgende Beobachtung aufmerksam gemacht: „Eine Verkrüppelte hat unter Glas und Rahmen die braunen Nägel aufbewahrt, die ihr durch die Hand gewachsen waren und von denen sie nun befreit ist.“ Dieses Beispiel findet sich laut Sommer auch in Huysmans Buch. Ebenso wie ein Zitat über „Engländer, die alles für sich haben wollen, die besten Plätze, die Spitze bei den Prozessionen“, das sich demnach ebenfalls bei Huysmans findet. Bei Tucholsky wird dies nicht Huysmans zugeschrieben, sondern einem unbekannten „jemand“, der sich über die Engländer beklagt.

Ob diese Klage 1925 immer noch berechtigt war? Tucholsky schreibt in seinem Text „Anglikanische Pastöre“:

Ich habe sie im Zug nach Lourdes gesehen und auf vielen Bildern: die glatten Ledergesichter der Hagern, wie Fußball-Champions, und die guten, onkelhaften der Dicken – ja, sie hatten diese schwarzen Röcke an, es waren wohl Geistliche, Alles, was recht ist … aber es waren keine

Sommer sind die vielen Erwähnungen von Huysmans‘ Buch durch Tucholsky natürlich nicht entgangen. Er sieht sie jedoch allesamt als Beleg dafür, dass der „Agnostiker“ Tucholsky auch den Rest seiner Eindrücke übernommen haben muss.

Unbelegte Rufschädigung

Was bleibt also von Vorwürfen übrig?

Wie Tucholsky selbst bemerkte, hat er sich damals Lourdes auch mit den Augen Huysmans angeschaut. So wie sich Abertausende deutscher Touristen das schwedische Schloss Gripsholm mit den Augen Tucholsky angeschaut haben mögen.

Er fand Huysmans‘ Buch sogar so lesenswert, dass er ein Exemplar im Jahr 1927 seiner Geliebten Lisa Matthias schenkte.

Tucholsky zu unterstellen, er habe sich Lourdes aus Zeitgründen und religiöser Ignoranz gar nicht richtig angesehen, um stattdessen aus Les foules de Lourdes abzuschreiben, ist aber eine durch nichts belegte Rufschädigung. Wäre Tucholsky noch am Leben, wäre eine Gegendarstellung in der „Tagespost“ wohl das Mindeste, das er durchsetzen würde.

Absurd auch der Versuch Sommers, Tucholsky eine Scheinheiligkeit im Umgang mit tatsächlichen Plagiaten nachzuweisen. Denn Tucholsky habe er der Schriftstellerin Irmgard Keun unterstellt, in ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen den „Ton“ eines anderen Romans imitiert zu haben. Abgesehen davon, dass Tucholsky gerade nicht versucht hat, den „bildkräftigen und vieldimensionalen“ Stil Huysmans nachzuahmen, muss man ihn beim Thema Plagiat an den Maßstäben messen, die er im Falle Bertolt Brechts angelegt hat.

So heißt es im Artikel „Die Anhängewagen“ vom Mai 1929:

Ich bin kein Plagiatschnüffler; ich weiß, wie halb verwehte Klänge haften, wie einem Erinnerungen aufsitzen, wie man unbewußt plagiieren kann … aber weil ich es weiß, passe ich auf. Zu denken, daß sich unsereiner quält, wegläßt, weil vielleicht diese Zeile zu sehr an eine von Mehring erinnert – ich habe den größten Respekt vor geistigem Eigentum, und eine ebenso große Verachtung literarischer Einbrecher.

Der Plagiatschnüffler Sommer ist bei Tucholsky offensichtlich auf eine falsche Fährte gestoßen. Vielleicht hätte er sich vor der Abfassung des Artikels besser diesen Artikel der „Tagespost“ durchgelesen.

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